Kapitel 28

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Der Wunsch, der Realität zu entkommen ließ auch die nächsten Tage nicht nach. Ich war mittlerweile bei meinen Eltern in der Heimat angekommen und wie bei meinem letzten Besuch hier, wartete ich vergeblich auf ein Lebenszeichen von Anne. Immer wieder hatte ich die Tage über mein Handy in den Händen gehalten und war fest dazu entschlossen, ihr zu schreiben. Ich hatte die leise Hoffnung, dass eine Nachricht von mir etwas verändern könnte. Doch ich konnte noch so viele Texte eintippen, keiner erschien mir passend oder ausreichend. Und tief in meinem Inneren konnte ich auch nicht über meinen Schatten springen, erneut den ersten Schritt auf sie zu zugehen. Diesmal war sie an der Reihe und ich war zu stolz dafür, um es selbst in die Hand zu nehmen. Und um ehrlich zu sein, würde sie auf mich zukommen, wenn ich es ihr wert war.

Die Tage hier zogen sich zäh wie Kaugummi, obwohl ich alles versuchte, um nicht im völligen Selbstmitleid zu versinken. Doch die Gesellschaft meiner Eltern, meiner Familie und die meiner Freunde konnten dieses Loch nicht füllen, das der Abschied von Anne in mein Herz gerissen hatte. Ich vermisste ihre Nähe und ihre Stimme. Vermisste unsere Telefonate am Abend und unsere Nachrichten am Morgen, die mir bisher jeden noch so schlechten Tag versüßt hatten. An die kurze, aber intensive Zeit mit ihr hatte ich mich viel zu schnell gewöhnt, was sich nun als Fehler herausstellte. Jetzt war es jedoch zu spät, um sich über meine Naivität zu ärgern. Ich war ihr von Anfang an verfallen, hatte nie die Möglichkeit gehabt, es langsam angehen zu lassen. Aber nicht nur die Tage waren lang und gedankenreich, auch die Abende und Nächte versprachen keine Besserung. Wie an den anderen Abenden auch lag ich bloß unzufrieden und traurig in meinem Bett, versuchte die Stille im Zimmer und den gleichzeitigen Lärm in meinem Kopf mit Musik zu übertönen. Das war vielleicht nicht die sinnvollste Art mit meinem Liebeskummer umzugehen, aber die effektivste. So lag ich Stunde um Stunde in der Dunkelheit, warf mein Kopf in einem beinahe einstudierten Rhythmus zurück in mein Kissen und wartete darauf, dass die Müdigkeit irgendwann über all meinen Kummer und meine Sorgen dominierte und ich in einen unruhigen Schaf fiel.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich keine Ahnung wie spät es war und wie lang ich geschlafen hatte. Meine Augen fühlten sich noch schwer an, als ich sie versuchte zu öffnen. In meinem Zimmer war es hell, die Sonne schien zu meiner Überraschung durch das Fenster und das Licht brannte in meinen Augen. Erschöpft tastete ich nach meinem Handy, das mal wieder unter meinem Kopfkissen gelandet war und schaute nach der Uhrzeit. Halb 11, so ein Mist! Fluchend schmiss ich die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Ich war schon viel zu spät dran, um pünktlich zu meinem geplanten Frühstück mit Julia zu kommen. Wieso hatte mich denn niemand geweckt? Schnell zog ich ein paar Kleidungstücke aus dem Schrank und lief ins Bad, um mich kurz fertig zu machen. Mein Spiegelbild hatte mir mit Sicherheit schon schöner entgegengeblickt, aber die Zeit reichte einfach nicht mehr für ein ordentliches Make-up oder geglättete Haare. Julia wird es überleben, dachte ich mir insgeheim und sprintete wieder in mein Zimmer, um meine Tasche schnell zu packen. In nächsten Moment rannte ich schon die Treppe herunter und schnappte mir meine Jacke, bevor ich als nächstes meine Schuhe suchte. Gerade als ich das Haus verlassen wollte, klingelte es plötzlich an der Tür und ich war mir sicher, dass es Julia war. Stürmisch riss ich die Tür auf und schaute gar nicht erst nach oben.

„Sorry, ich hab verschla-", sagte ich und versucht gleichzeitig meine Schuhe anzuziehen. Doch als ich nach oben blickte, verschlug es mir die Sprache. Es war nicht Julia, die vor der Tür stand.

„Ich wusste gar nicht, dass wir verabredet waren?", hörte ich Anne belustigt sagen. Ihre grünen Augen strahlten mich an und ich musste feststellen, dass ihr plötzliches Auftreten mich erheblich aus dem Konzept brachte. Was machte sie auf einmal hier? Und woher wusste sie überhaupt, wo meine Eltern wohnen?

SemesterliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt