Als ich sie das erste Mal traf, war es Winter. Ungewöhnliche Zeit für das Eintreffen einer neuen Schülerin.
Wir alle waren ja schon mehrere Monate dort und hatten uns eingelebt, Freundschaften geschlossen. Und dann stand sie vor dem großen Tor. Die dünnen Beine zitternd im Schnee. Die Arme umklammerten steif eine große Tasche und ihre Finger wurden fast blau vor Kälte. Nichtmal einen Schal trug sie. Nur einen durchnässten Mantel und Stiefel mit Fellrand.
Sie war so kurios, dass alle Schüler angerannt kamen, um sich dieses Kind genauer anzuschauen. Einige der Jungs kicherten. Andere starrten nur verwundert. Wir Mädchen aber handelten und nahmen sie mit in die Eingangshalle. Wir gaben ihr eine Decke und riefen Lehrer herbei.
Ihr Name war Alva.
Sie war neu.
Sie wurde hierher gebracht weil es auf ihrer anderen Schule ein Problem gegeben hatte.
Was für ein Problem?
Das wurde uns offiziell nie erklärt.Alva kam in ein Einzelzimmer. Alle anderen waren ja schon belegt. Es hatte niemand mit ihr gerechnet.
Niemand redete viel mit ihr. Ich habe Gerüchte gehört, sie sei von einem Dämon besessen, sie sei eine Mörderin, sie sei ein gefallener Engel auf der Suche nach Rache.
Aber sie lagen ja alle so falsch.
Rückblickend bin ich froh, dass mich diese Gerüchte nicht davon abgehalten haben, an diesem einen Donnerstag mit ihr zu reden und sie kennen zu lernen.Die Glocke hatte geläutet und es war Zeit zum Abendessen. Auf einem Internat isst man gemeinsam. Oberste Regel. Es gibt noch ganz viele andere, aber die ist wichtig. In unserem Internat gibt es einen großen Speisesaal. Wir sind zwar ein Gemischtinternat, aber Mädchen und Jungen haben getrennte Aufenthaltsräume und deshalb kam man nur so wirklich in Kontakt mit dem anderen Geschlecht.
Ich nahm mein Tablett mit den üblichen Gerichten an mich. Donnerstags gab es meist irgendein Gemüse mit Nudeln oder Kartoffeln oder Reis. Heute war es Spinat. Ich habe nichts gegen Spinat. Ich mag ihn sogar. Dazu bekamen wir oft noch eines der selbstgebackenen Brötchen, die Mrs. Fletcher, die Köchin, gern zubereitete. Sie waren aus süßem Hefeteig und bei den Schülern sehr beliebt. Getränke gab es genug. Auf jedem Tisch im Saal standen mehrere Karaffen mit Milch oder Wasser, zum Frühstück auch Saft. Es war, um es zusammenzufassen, ein ausreichendes Mahl.
"Hey Missy!" Lachend stieß mich ein Junge von der Seite an. Er hatte kurzes, dunkles Haar und trug eine viereckige Brille, die seine Augen größer erscheinen ließ. Er war ungefähr einen Kopf größer als ich und trug ein zerknittertes Hemd mit einem schwarzen Pullunder, welcher ein aufgesticktes blaues Wappen mit einem Löwen besaß. Ladys und Gentleman: Martin Cole wie er leibt und lebt!
Martin Cole, mein bester Freund seit dem ersten Schuljahr auf dem Internat.
Martin Cole, der immer seine Brille verliert.
Martin Cole, der mir den Spitznamen Missy gab.
Martin Cole, der mich am Arm zu einem Tisch zog und mir von seinem Tag erzählen wollte.
"Du sollst mich nicht so nennen", raunte ich, aber innerlich war ich stolz. Missy klingt schon stattlich und verwegen. Ganz anders als mein richtiger Name.
"Du wirst es nicht glauben, aber ich habe heute in Französisch meinen Aufsatz wiederbekommen und nur 3 Fehler gehabt." Martin Cole, der beste in Französisch. "Hallo? Erde an Missy?"
"Ja? Oh. Gratulation!" Ich hörte ihm nicht richtig zu, meine Augen erspähten etwas am anderen Ende des Raumes. "Warum bist du denn so abwesend? Bist du krank? Das ist nicht die Catherine, die ich kenne. Vielleicht sollten wir dich zur Krankenschwester bringen?" Alva betrat den Saal. Ihre blonden Haare sorgsam zu einem Zopf geflochten, mit einem hellgrünen Haarband, den Rock passend zur sorgfältig gebügelten Bluse. Ich sollte nebenbei vielleicht erwähnen, dass unser Internat keine Schuluniformen vorgab. Es war uns frei, was wir tragen wollten, solange es in den Rahmenbedingungen blieb. Wir Mädchen hielten uns gerne bedeckter. Ich selbst trug oft einfach einen dunkelblauen Pullover und einen grauen oder schwarzen Rock. Im Winter hielten mich kniehohe Stiefel und eine dicke Strumpfhose vom frieren ab, im Sommer liebte ich mein geblümtes Kleid. Die Jungen trugen meist Hose und Hemd, einige auch Pullover oder kurzärmelige Shirts.
Alva trug das, was sie mochte.
Jeden Tag etwas anderes. Meist war es schlicht. Grau, schwarz oder weiß. Doch man fand immer etwas farbiges an ihr.
Es war eine Odnung im völligen Chaos.Ihre Blicke huschten hilflos im Gewirr der Schüler hin und her. Es war sehr voll. Martin hatte mittlerweile aufgehört irgendwelches Zeug zu reden. Er wusste wohin ich starrte und er verdrehte die Augen: "Was ist eigentlich mit dir los, Missy? Immer schaust du sie an als wäre es das erste Mal, dass du sie triffst." Aber ich hörte nicht. Alva stand immer noch allein im Saal; ein Tablett in der Hand. Sie blickte sich suchend um und duckte sich weg vor den urteilenden Augen der anderen. "Sie sucht einen Platz", stellte Martin fest, "Vielleicht winke ich ihr mal, dass hier etwas frei ist." "Oh nein. Das lässt du mal schön blei-" Alvas Blick traf uns. Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Es war als überkäme mich ein eiskalter Schauer, als ihre hellblauen Augen mich ansahen. Martin und ich verstummten sofort. Ich glaube wir haben beide sehr dumm geschaut.
Das einzige woran ich mich noch erinnere war mein Herzschlag. Er war so laut, dass ich dachte, mein Herz würde explodieren. 'Bitte komm nicht zu uns', wiederholten meine Gedanken jeden Schritt, den sie näher kam. Und dann-
Stand sie vor mir."Ist hier noch etwas frei?", fragte sie. Ich hatte sie noch nie reden hören. Wir hatten nur wenige Stunden gemeinsam und sie war meist still. Alvas Stimme war aber nicht sanft und leise, wie ich dachte. Sie war kräftig und in ihr lag ein frecher Unterton. Außerdem besaß sie einen fremdartigen Akzent. Jedes Wort klang rau und dennoch wunderschön. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sprang Martin für mich ein: "Äh..Ja. Ja hier ist noch frei. Setz dich doch zu uns." Er lächelte. Sie nicht. Alva setzte sich zu uns und begann schweigend zu essen. Doch bevor sie einen weiteren Bissen nehmen konnte, blockierte eine ausgestreckte Hand ihr Tablett. "Martin. Martin Cole. Hallo." Stille. Alva schaute auf in Martins nervös lächelnde Gesicht. Zögernd nahm sie seine Hand und schüttelte sie leicht: "Alva. Burns. Das wisst ihr sicher." Ihr Nachname hatte einen leichten Nachgeschmack und passte zu dem, was man über sie gehört hatte. "Und du?", sie sah mich fragend an und ich fühlte mich auf eine peinliche Art und Weise ertappt. Stotternd kratzte ich heiser einen Satz zusammen: "Äh.. Cath-Catherine. Catherine Davies. Hallo." Martin legte beruhigend einen Arm um mich: "Oder Missy. So nenne ich sie." "Wieso?", fragte Alva verwundert. "Ja. Wieso?" Mir war der Kontext dahinter auch nie erklärt worden. Martin wurde noch nervöser. Er tippte mit seinen Fingern auf dem Brillengestell herum und schob sie dann ein Stück zu weit nach oben: "Na.. Cathy ist manchmal.. Wie eine... freche Lady." Er nahm den Arm weg und bedeckte sein Gesicht. Ich stieß ihn leicht in die Seite: "Mister Cole, ich bin sehr entzürnt über diese Erklärung." Alvas Gesichtszüge wurden weicher. Ich glaube sie lächelte damals und ich grinste verlegen zurück.
DU LIEST GERADE
Der Tanzbär // Abgeschlossen
Adventure"'Hast du Angst?', flüsterte sie. 'Du weißt, was dort ist und du weißt, was passieren könnte.' [...] Aber ich schüttelte den Kopf und gemeinsam drehten wir den Schlüssel im Schloss herum und lauschten dem leisen Klicken des Mechanismus, als die Tür...