"Das erklärt aber immer noch nicht, warum Mr. Marsh ein Foto von dir hat", sagte Martin und legte einen Arm um das blonde Mädchen. Wir saßen im Mondschein unter dem Walnussbaum und genossen die frische Luft.
Alva legte ihren Kopf auf seine Schulter und versuchte ruhig zu atmen. Ich saß neben ihr und hielt ihre Hand.
"Kennst du ihn irgendwo her?"
"Nein." Ihre Stimme klang schwach und leise. Eine Pause entstand und die Äste des Baumes bewegten sich sanft im Wind. "Aber... Ich glaube mein Vater kennt ihn." Sie flüsterte es mehr als sie es sagte.George zog eine Augenbraue hoch: "Was hat denn dein Vater damit zu tun?"
"Ich weiß es nicht. Aber woher sollte Marsh sonst das Foto haben? Ich kenne das Bild. Es wurde damals gemacht... Zwei Tage vor dem..." Sie stockte. Ich drückte ihre Hand ein bisschen, um ihr Mut zu machen. Wir alle waren während des Krieges aufgewachsen, wir alle hatten eine etwas andere Kindheit erlebt als die, der heutigen Kinder.Aber ich war noch nie in einen Brand verwickelt gewesen.
Ich stand noch nie im Feuer.
Und ich hatte auch noch eine Mutter, die mir regelmäßig schrieb. Das alles musste sehr belastend gewesen sein. Umso mehr freute es mich, dass Alva uns so sehr vertraute."Okay", schloss Dorothy, "wir wissen nun also, dass der Mord in Verbindung mit Alva stehen könnte und anscheinend ja auch mit deiner Familie, wenn Mr. Marsh schon ein Foto von dir hat." "Was ist eigentlich mit dieser Henrietta Dover? Was ist mit ihr passiert? Kann es nicht irgendwie mit ihr zu tun haben?" Carter hatte sich vor gelehnt und schaute Alva direkt in die Augen. Aber sie wich seinem Blick aus. "Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie wurde in ein Kinderheim gebracht..." "Glaubst du etwa, Henrietta ist nach all den Jahren plötzlich aufgetaucht und terrorisiert jetzt das Wilburry Internat?" Ich konnte mir das Lachen nur schwer verkneifen. Die Vorstellung war einfach zu absurd. "Nein. Nicht direkt. Ich... Es war nur so eine Überlegung." "Habt ihr übrigens noch was interessantes im Raum gefunden?", wollte ich wissen. Bis jetzt war ich noch nicht dazu gekommen, sie zu fragen und ich war doch schon ganz schön neugierig. "Dokumente in irgendeiner komischen Sprache und weitere Fotos. Und wir sollten mal mit Felix Gallagher reden", erzählte Martin. Ich stutzte: "Felix Gallagher? Der Junge in der Klasse unter uns? Wieso sollen wir mit dem reden?" "Nicht 'wir'. Ich!", ging Dorothy dazwischen und reichte mir das Foto, was sie im Geheimraum gefunden hatten.
"Oh."
Meine Freundin nickte zustimmend. Ich reichte ihr das Foto wieder. Das war irgendwie nicht so ganz das, was ich erwartet hatte. "Und ihr seid sicher, dass uns das weiterbringt?" Frank zuckte mit den Schultern: "Ist bis jetzt unser einziger Anhaltspunkt."
"Darf ich mir die Dokumente einmal anschauen?", fragte Alva leise.
"Klar. Aber können wir das auch morgen machen? Ich bin etwas fertig mit den Nerven", erwiderte Martin. Das Mädchen schaute auf und nickte.
Frank lehnte sich im Gras zurück und schaute nach oben in den Sternenhimmel. Es war eine klare Nacht, ohne Wolken."Du hättest schon längst wieder in deinem Zimmer sein sollen."
Mist. Er hatte recht. Alva durfte nur bis kurz nach dem Abendessen draußen sein und es war bestimmt schon neun Uhr. "Miss Brooklyn wird nicht sehr erfreut sein... Aber wir dürften uns alle nicht mehr hier aufhalten. Nach 19 Uhr ist der Aufenthalt draußen verboten", meinte Carter. Er grinste schelmisch. Ich hatte fast vergessen, dass es nicht das erste Mal war, dass er gegen Regeln verstieß.
"Und wie kommen wir jetzt ins Gebäude? Es gibt doch Flur Aufsichten!" Dafür, dass sie es verabscheute, etwas verbotenes zu tun, wirkte Dorothy ziemlich entspannt. Sie kuschelte sich müde an George. Ich musste mir eingestehen, dass auch ich ziemlich erschöpft war.Mathematik, Englisch, Geschichte und Wissenschaften und nebenbei noch einen Mord aufklären, war keine leichte Aufgabe...
"Wir schleichen uns nacheinander rein. Drei gehen durchs Hauptgebäude, die anderen nehmen den normalen Eingang", schlug Martin vor. "Gute Idee", murmelte George und stand auf. Er beugte sich noch einmal runter und gab Dorothy einen Kuss. "Ich geh dann mal als erstes durchs Hauptgebäude. Wünscht mir Glück. Bis Morgen!"
Langsam schlich er sich über den Hof und öffnete vorsichtig die Tür zum Hauptgebäude. Dorothy sah ihm besorgt hinterher. Dann meinte sie: "Ich nehme den normalen Eingang. Okay?" Wir nickten und nach ein paar Minuten ging sie auch los. Martin sah Frank fragen an: "Schläfst du heute wieder bei uns... Oder-" "Ich will ihn euch nicht wegnehmen", fuhr Carter dazwischen und stieß Frank lachend an die Schulter. Ich hätte schwören können, dass dieser errötete, aber es war zu dunkel um genaues zu sagen. Martin schob seine Brille ein Stück hoch: "Ich habe nichts von wegnehmen gesagt... Frank ist nunmal unser Mitbewohner und du hast da ja noch Harry und Damien. Und außerdem ist es verboten." "Schon gut Martin. Es war nur einmal", sagte Frank beschwichtigend. Alva lachte neben Martin. Wir schauten sie an und sie hob abneigend die Hand, bis sie sich gefangen hatte. "Man könnte meinen", sagte sie dann, "dass du eifersüchtig bist, Martin." "Was? Martin, du-?" "Nein!", sagte der Junge neben ihr und lachte nervös, "nein. Ich will mir nur nicht noch mehr Ärger einhandeln." "Das war jetzt nicht sehr überzeugend", sagte ich. Er fügte schnell hinzu: "I-ich mag das gar nicht. Also... Liebe und sowas. Das ist nichts für mich. A-aber ich habe nichts gegen euch als Paar, ihr seid süß, nur für mich ist das nichts. Ich-" Jetzt lachte ich auch und umarmte ihn: "Wir habens verstanden, Martin. Alles ist gut, du musst dich hier nicht rechtfertigen." Ich löste mich von ihm und er grinste schief: "Danke, Leute."Er stand auf und sah sich um: "Wird Zeit, zu gehen."
Der Junge hob noch einmal die Hand zum Gruß, dann ging er davon.Ich legte einen Arm um Alva, während Carter sich an Frank kuschelte. Frank schien äußerst entspannt zu sein und nicht abweisend, wie sonst. Was hatte Carter nur mit ihm gemacht?
Dabei hatte mich Frank doch vor Alva gewarnt.
Ich fuhr mir durch die Haare und schaute meine Freundin an. Eigentlich schaute ich auf ihren Haarschopf, der auf meiner Schulter lag. Aber es konnte keinen schönerer Haarschopf geben.
"Sind wir eigentlich zusammen?", flüsterte ich nach einiger Zeit. Sie lachte lautlos und küsste mich. Zurück blieb das mir so vertraute Kribbeln. "Wichtiger ist doch, sind die da zusammen?" Sie deutete auf Frank und Carter.Frank hatte sich ins Gras gelegt und Carter zu sich gezogen. Sie küssten sich.
Irgendwie fühlte ich mich fehl am Platz. Ich seufzte und räusperte mich. Sofort stoben sie auseinander und Frank kratzte sich verlegen am Kopf.Carter grinste: "Ich geh dann auch mal" und Alva erhob sich ebenfalls. Langsam glitt ihre Hand aus meiner und ich sah sie traurig an: "Du auch?" Sie nickte: "Ich bin müde. Gute Nacht Cahty. Schlaf gut!" Auch Frank verabschiedete sich von Carter: "Auf Wiedersehen, Mieze."
Wir waren allein.
"Mieze? Ernsthaft?" Frank lockerte verlegen sein Hemd. Jetzt war meine Chance: "Was ist mit dir passiert? Das ist nicht der Frank, der mir geraten hat, ich sollte mich vor Alva in Acht nehmen. Du solltest dich eher vor ihm in Acht nehmen! Und gerade dieser super auffällige Kuss? Wenn das jemand gesehen hat..." Er räusperte sich nur: "Ich weiß es wirklich nicht. Es war so ein blöder Zufall, dass er mich gefunden hat und auch mag und es ist alles so surreal." Frank fuhr sich durch die Haare: "Dich zu warnen und jetzt sowas. Das ist kontraproduktiv. Und diese Warnung... Ich habe mich geirrt, es tut mir leid. Es freut mich, dass du so glücklich bist." "Du solltest es trotzdem nicht überstürzen. Ich weiß nicht, was in deiner Vergangenheit passiert ist, aber es schien mir nie eine einfache Sache zu sein. Also..." Er lachte und stand auf: "Keine Sorge. Ich selbst weiß, wie abwegig das alles ist. Wir beide müssen vorsichtig sein. Hoffentlich werden wir nie erwischt." Ich ergriff die Hand die er mir bot und ließ mich hochziehen. Eine letzte Umarmung, dann gingen wir getrennte Wege.
Auf dem Weg zum Gebäude dachte ich darüber nach. Es war ja nicht so, als wäre Frank nicht von jetzt auf gleich in Carter verliebt gewesen. Das hatte sich alles über das letzte Jahr entwickelt. War Carter aber auch schüchtern und hatte erst jetzt sich getraut und die Chance ergriffen? Er schien auf jeden Fall mehr Erfahrung zu haben, als wir alle.
Ich musste mir ein Lachen verkneifen.
Carter hatte natürlich mehr Erfahrung. Er war schließlich ein Mädchenschwarm. Wie Frank. Irgendwie ähnelten sie sich ein bisschen.Ich hatte das Gebäude erreicht und öffnete langsam die Tür. Ich konnte keinen Lehrer entdecken. Mit angehaltenem Atem stieg ich die Stufen zum zweiten Stock hoch und blickte um die Ecke. Irgendwo ganz hinten entdeckte ich den Schein einer Lampe. Es war eine Petroleumlampe. Ich konnte nicht genau sehen, wer dort auf dem Stuhl saß, denn eine aufgeschlagene Zeitung verdeckte das Gesicht.
Mist.
Ich musste jetzt so leise wie möglich sein...
Ich presste mich gegen die Wand und versuchte flach zu atmen, aber mein Herz klopfte wie wild. Noch einmal Ärger einhandeln wollte ich mir nicht.
Es waren noch zwei Türen, die ich hinter mich bringen musste.
Ein Räuspern ließ mich zusammenzucken. Ich schloss die Augen und befürchtete, dass gleich mein Name fallen würde, doch ich öffnete sie wieder, sobald ich hörte, dass die Zeitung umgeblättert wurde. Nur mit Mühe konnte ich mir ein lautes Aufatmen verkneifen und tastete mich zitternd und schwitzend an der Wand entlang.Wie gut, dass die Holztüren leicht aufgingen und kein Geräusch machten.
Ich öffnete die Zimmertür nur so weit, dass ich mich hindurchzwängen konnte und schloss sie leise.Ich atmete aus und ließ mich zu Boden sinken. Meredith schaute von ihrem Buch auf und grinste: "Na da ist ja unsere Ausreißerin! War's schön?" Ich nickte und ging zur Kommode um mir mein Schlafzeug zu holen. Dann verdrückte ich mich in unser kleines Badezimmer.
Jedes Zimmer hatte eins.
Hier gab es ein Waschbecken und eine Toilette, die Duschen waren unten im Gebäude, neben den Räumen für die Erstklässler.Manchmal, besonders morgens, beneidete ich sie um den kurzen Laufweg.
Ich putze mir meine Zähne, wusch mein Gesicht mit einem Waschlappen und zog mich um. Dann betrachtete ich mich kurz im Spiegel. Ich sah müde aus, hatte Augenringe, mein Haar war zerzaust und der Ansatz etwas fettig. Ich fragte mich, wie mich Alva nur lieben könnte, löschte dann das Licht und ging zu meinem Bett.
Ich kramte in meiner Tasche und holte ein Buch heraus. Es war an der Zeit, ein paar Hausaufgaben zu machen.
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Der Tanzbär // Abgeschlossen
Aventure"'Hast du Angst?', flüsterte sie. 'Du weißt, was dort ist und du weißt, was passieren könnte.' [...] Aber ich schüttelte den Kopf und gemeinsam drehten wir den Schlüssel im Schloss herum und lauschten dem leisen Klicken des Mechanismus, als die Tür...