Das Schloss

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"Also seid ihr jetzt zusammen oder nicht?" Wir saßen beim provisorischen Frühstück in der Eingangshalle und Frank hatte uns mit hochrotem Kopf und vielem Stottern berichtet, was ihm letzte Nacht passiert war. Alva hing neugierig an seinen Lippen. Ich saß neben ihr und hielt unauffällig ihre Hand. Genau das Gleiche hätte ich sie fragen können. Gilt Händchen halten schon als 'zusammen sein'? Ich nahm mir vor, Dorothy später zu fragen. Es war auf jeden Fall mehr, als ich mir je erhofft hatte.

"Das spielt doch gar keine Rolle", fiel George dem blonden Mädchen ins Wort, "viel wichtiger ist die Information, dass Carter etwas weiß." Er schenkte Alva einen stechenden Blick: "Und dich sollte das am meisten freuen, denn es geht ja hier generell nur um dich." Sie blieb still, drückte meine Hand aber fester. Es tat ein bisschen weh, aber ich hielt es ihr zu Liebe aus.
"Es ist beides irgendwie wichtig. Also, was ist denn jetzt?", mischte sich Dorothy ein, die zwischen Frank und George saß.

Er und Dorothy waren gestern noch länger wach gewesen, hatten unter dem Baum gesessen und sich lange geküsst. Ich hatte das Gefühl, dass der Abend ihre Liebe zueinander gestärkt hatte. Oder vielleicht war das auch die Ablenkung, die die beiden gerade brauchten...

Frank stocherte in seinem Rührei. "Naja. Keine Ahnung... Ich denke nicht." Diese Aussage tat ihm merklich weh, aber er versuchte vor uns stark zu bleiben. "Du musst einfach mehr Zeit mit ihm verbringen", meinte Alva und klaute ihm eine Gabel Ei vom Teller, "du siehst ihn ja heute in der Bibliothek -wir kommen übrigens mit, falls dir das noch nicht bewusst war- und wer weiß... Vielleicht ergibt sich ja noch etwas?" Ich hätte schwören können, dass sie ihm zuzwinkerte. Dieses Mädchen war unglaublich. "Ganz schön große Klappe für jemanden, der nur Händchen hält", schaltete sich Martin ein, der das Gespräch bis jetzt nur stumm verfolgt hatte. Er nahm seine Brille ab und putzte sie sorgfältig. Alva schien von der Aussage gar nichts zu halten und erwiderte: "Cathy ist einfach noch nicht bereit." Aua. Das tat irgendwie weh. "Was soll das heißen, 'nicht bereit'?", fragte ich entrüstet. "Nun", entgegnete meine Freundin und spielte mit einer rosa Schleife, die sie am Kragen trug, "ich möchte dich einfach nicht überfordern. Tut mir leid, dass ich dir das so sagen muss." Entgeistert starrte ich in die Gesichter meiner Freunde, die zu lachen anfingen. Selbst Frank stimmte leise mit ein. "Hmpf! Wenn du meinst", sagte ich widerwillig, war aber doch ganz froh darüber. Sie hatte ja schon Recht... Wenn mich selbst Händchen halten überforderte, wie würde es dann bei einem Kuss oder anderen Dingen sein? Schnell wechselte ich das Thema, es hätte uns ja jemand zuhören können: "Und, Frank, du glaubst echt, Carter weiß etwas? Das klingt doch alles ziemlich verrückt. Mr. Marsh war doch eigentlich immer völlig normal und nie irgendwie auffällig." Frank zuckte nur mit den Schultern: "Also... Er klang aber sehr überzeugend und ich glaube, ihm war es ernst. Außerdem, was soll schon passieren? Wir können es wenigstens versuchen." "Ja", stimmte Martin zu, "Wir haben ja sonst keine Hinweise auf irgendetwas." Wir nickten zustimmend, beendeten unser Frühstück und stürzten uns in den Unterricht.
Ab und zu wurden wir in kleinen Gruppe herausgenommen und halfen, den Speisesaal wieder zu säubern. Heute war es ausgesprochen ruhig und nicht einmal Alva bekam blöde Bemerkungen an den Kopf geworfen. Dafür tauschten wir immer wieder heimliche Blicke aus und ich musste grinsen, sobald ich sie ansah. Ich bemerkte schnell, wie anstrengend verliebt sein war und wie sehr meine Konzentration im Unterricht darunter litt. Aber ich versuchte, mich zu beteiligen, so gut es ging und anscheinend gelang mir dies sogar ganz gut. Ich wurde nicht ermahnt. Sehr gut. Mehr Strafarbeiten konnte ich mir auch nicht leisten.

Als es Nachmittag wurde und wir unseren Unterricht beendet hatten, schlenderten wir zur Bibliothek. Miss Gilda saß nicht am Thresen. Wahrscheinlich watschelte sie durch die Gänge und erwischte jüngere Schüler dabei, wie sie Buchseiten mit Kaugummi zusammenkleben wollten.
"Wo genau ist Carter jetzt?", fragte Martin noch einmal. Bücherregal um Bücherregal zog sich neben uns entlang, während wir uns zwischen Tische, Stühle und Schülern hindurchzwangen. "Er sagte etwas von Mathematik. Ah, hier", Frank war einen schmalen Nebengang abgebogen. Ich las die Titel auf den Rücken der Bücher. "Das 1 x 1", "Formeln und Figuren Band 4", "Integrale". Ich erschauderte leicht. Mathematik war nicht gerade mein Lieblingsfach. "Irgendwo hier meinte er, wollte er sich mit uns tre-", Frank verstummte mitten im Satz und blieb stehen. Seine Wangen glühten und seine Hände trommelten nervös an die Seiten seiner Hose. Carter kam auf uns - nein, auf ihn zu. Einen Augenblick später zog er den verwirrten und nervösen Frank in einen langen Kuss. Wir starrten alle die beiden Jungs an und Alva murmelte ganz leise ein "oh. Okay...?!", so als wäre sie auf alles vorbereitet gewesen, bis auf das. Frank errötete noch mehr. Aber er schloss die Augen und schien es wirklich zu genießen. So wie ich meine Freunde kannte, hätten sie angefangen zu jubeln, als sich die zwei voneinander lösten, aber wir waren ja in einer Bibliothek und Miss Gilda hätte uns bei dem Lärm sicher rausgeworfen. Nur Martin und George schauten sich etwas paranoid um. Ich konnte sie verstehen, denn dieser Kuss war illegal. Frank räupserte sich nach ein paar peinlichen Augenblicken. "Ja, also... Carter? Das sind Martin, Catherine, Dorothy, George und... Alva", stellte er uns vor. Carter grinste schief und hob die Hand zum Gruß. Er sah ziemlich cool aus, mit seiner Lederjacke und den schwarzen Stiefeln. Seine schwarzen Haare hatte er absichtlich unordentlich nach hinten gekämmt und die grünen Augen funkelten wild. "Hi." George musterte ihn skeptisch: "Also...Frank hier hat gesagt, du könntest uns vielleicht weiterhelfen? Du weißt wo der Schlüssel hineinpasst?" Carter kratze sich verlegen am Hinterkopf. "Ich hoffe doch", antwortete er und erzählte noch einmal, was er vor ein paar Wochen in der Bibliothek mitbekommen hatte. "Und du bist ihm dann gefolgt?", fragte Alva. Sie hörte ihm aufmerksam zu. "Ich wusste gleich, dass etwas nicht stimmte. Mr. Marsh hat die ganze Zeit leise geflucht und wirkte total nervös. Ich musste einfach wissen, was er da macht. Also hab ich gewartet, bis er die Akten wieder eingesteckt hat und bin ihm leise gefolgt. Und ratet mal wo er hingegangen ist! In den Keller. Ich hab mich total gefürchtet, aber meine Neugier und Skepsis haben mir befohlen, weiterzumachen." "Aber", fiel ich ihm ins Wort, "Im Keller waren wir ja schon." Carter nickte zustimmend und fuhr fort: "Ja. Ich weiß. Aber ihr habt nicht hinter das Regal geschaut oder?" Ich blickte die anderen fragend an, doch die zuckten nur mit den Schultern oder schüttelten den Kopf. "Das Regal? Was meinst du?" Frank sprach aus, was uns allen im Kopf schwebte. Aber er erntete von Carter nur einen verschwörerischen Blick und der kräftige Junge ging an uns vorbei. Wir standen noch verwirrt da, also drehte er sich um und grinste: "Na kommt schon! Jetzt haben wir noch Zeit!" Frank setzte sich als erster in Bewegung, dann Martin und Alva. George raunte mir zu: "Ich glaube, wir haben jetzt noch einen in unserer Gruppe." Dorothy, die es gehört hatte, runzelte die Stirn: "Meinst du? Carter hat doch genug andere Freunde. Ich denke, er will uns, und besonders Frank, einen Gefallen tun." Ich sagte nichts. Ich hatte mich das auch schon gefragt. Blieb Carter jetzt bei uns? Würde er uns nur dieses eine Mal helfen, dann wieder zu Damien, Chat und seinen anderen Freunden gehen und so tun, als gäbe es uns nicht? Spielte er nur mit Frank oder war es ihm wirklich ernst? Es war doch schon irgendwie seltsam, dass Carter erst jetzt auf Frank zuging und besonders, dass er auf ihn zuging und nicht Frank. Carter hatte doch nie etwas über Franks Gefühle gewusst und jetzt schien er sie sogar zu erwidern? "Du musst vorsichtig sein", hallten die Worte wieder, die mir Frank vor einiger Zeit hinter der Turnhalle gesagt hatte. Ich wünschte ihm das Gleiche. Hoffentlich meinte es Carter ernst. Wir wussten, wie sehr Frank es sonst zerstören würde.

Ich wollte nicht an das Schlimmste denken, also nahm ich Dorothy bei der Hand und zog sie hinter mir her, während ich den anderen folgte. George seufzte, dann kam er auch.

Carter führte uns aus der Bibliothek und in die Eingangshalle. Von dort aus führte eine Tür in einen kleinen Flur und hier verbarg sich hinter einer weiteren Tür die Kellertreppe. Sie war aus weißem, über die Jahre verschmutztem, Stein und die Wände ebenfalls. Das Licht existierte nur spärlich in Form von kleinen Wandlampen, die in den Augen brannten, sobald man aus Versehen hineinschaute. Jeder Schritt hallte im langen Gang wieder. Ich hasste es hier. Und ich muss auch gestehen, dass ich nicht geschaut hatte, ob der Schlüssel hier unten irgendwo passte. Es war einfach zu muffig und zu kalt und zu gruselig. Zum Glück hatte ich nun sechs Personen bei mir, alle mehr oder weniger meine Freunde.

Schweigend gelangten wir in einen großen Raum. Er war weiß gestrichen und an der Decke zogen sich silberne und kupferne Rohre entlang. Auf dem Boden standen viele Kartons, die sich in einer Ecke bis zur Decke stapelten, Spinnweben hatten in den anderen ihre Netze aufgespannt. Alte Stoffreste lagen verstreut auf dem Boden und ebenso einige zusammengerollte Landkarten. Das Licht flackerte und unsere Schatten fielen auf zwei weiße Türen. "Die zwei", durchbrach George die Stille, "Die habe ich schon probiert. Und wo ist hier bitte ein Regal?" Aber Carter ignorierte ihn und machte sich an dem Kartonstapel zu schaffen. "Was machst du da?", fragte Martin, ging aber hin und half ihm, eine der Kisten auf den Boden zu stellen. Er schnaufte und George, der von uns am stärksten war, packte mit an, nachdem er von Dorothy einen vorwurfsvollen Blick geerntet hatte. Es dauerte nicht lange, da hatten die Jungen alle Kisten beiseite gestellt oder geschoben und den Blick auf etwas frei gemacht.

In der Ecke stand ein kleines Metallregal. Es war so unscheinbar und gefüllt mit weiteren Kartons, alle unleserlich beschriftet und verklebt. "Ach das Regal", sagte George, als hätte er es schon gekannt und noch nie ein anderes gesehen. "Ja genau das Regal. Möchtet ihr mir jetzt nochmal helfen und das hier beiseite schieben?" Gesagt. Getan. Das Regal war anscheinend nichts so schwer, wie die Kisten. Ich hoffte, dass uns niemand hörte, denn wir veranstalteten schon einen ziemlichen Lärm. "Und das hat Mr. Marsh alles alleine gemacht?", fragte ich skeptisch. "Nun ja", schnaubte Carter, "Er war stärker, als ihr denkt." Das Regal war beiseite geschoben und dahinter kam eine weitere, weiße Tür zum Vorschein. Wir hielten alle den Atem an. Was, wenn das wirklich die Tür war, nach der wir seit Wochen suchten? Was, wenn wir nun endlich dem Geheimnis auf die Spuren kommen würden? "Wer probiert es?", fragte Martin, nachdem wir die Tür mindestens drei Minuten angestarrt hatten. Frank hatte mit zitternden Händen den Schlüssel von Carter bekommen. "Ich finde, das sollte jetzt Catherine machen. Nur wegen dir sind wir eigentlich hier", sagte er und überreichte uns den Schlüssel. Warum ich? Aber niemand entgegnete etwas. Irgendwie war ich neugierig, aber auch nervös.
Langsam, und den Schlüssel fest umklammert, ging ich auf die Tür zu. Meine Freunde beobachteten mich. Alva ging neben mir her.

"Hast du Angst?", flüsterte sie. "Du weißt, was dort ist und du weißt, was passieren könnte." "Was meinst du?", fragte ich zurück. Sie schwieg kurz, dann antwortete sie noch leiser: "Hast du es dir nicht schon längst gedacht? Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich die ganze Wahrheit. Vielleicht hat das alles wirklich... mit mir zu tun. Vielleicht werde ich wirklich von der Schule verwiesen... Und dann sehen wir uns nie wieder. Ich will damit sagen... Es gibt Geschichten über mich, die habe ich dir nie erzählt." Mein Kopf schaltete sich aus und plötzlich war alles ganz klar. Ich erstarrte in meiner Bewegung, der Schlüssel hing im Schloss, bereit, etwas zu öffnen. Er passte und das gab mir Mut. "Auch wenn es vielleicht mit dir zu tun hat, es ist mir so egal. Du bist keine Mörderin und das wissen wir alle. Du bist... Das tollste Mädchen, dass ich kenne." Dann küsste ich sie.
Es war eine kleine Explosion meiner Gefühle. Auch wenn der Kuss keine Ewigkeit dauerte und wahrscheinlich nicht so leidenschaftlich wie die von George und Dorothy oder Frank und Carter war, so war er doch mein Erster und der Schönste, den ich mir vorstellen konnte. Alva grinste mich an, während meine Freunde applaudierten. "Ich hasse euch!", rief ich ihnen mit rotem Kopf zu, aber das störte sie wenig. "Du bist ebenfalls großartig, Cathy", flüsterte Alva. Ich drehte mich wieder zu ihr, zu der Tür, die uns vom nächsten Wahnsinn trennte. Ich legte meine Hand auf den Schlüssel. Sie tat es ebenso und berührte meine Finger.

"Du hast also keine Angst?", fragte sie noch einmal. Aber ich schüttelte den Kopf und gemeinsam drehten wir den Schlüssel im Schloss herum und lauschten dem leisen Klicken des Mechanismus, als die Tür aufschwang.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt