Beschlüsse

39 6 0
                                    

Es war keine Überraschung, dass die Stimmung am nächsten Tag gedrückt war. Viele hatten den Todesfall erst am Morgen, durch die Berichte ihrer Freunde mitbekommen. Aber die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Mr. Marsh war ein beliebter Lehrer gewesen. Er war nicht sehr lange angestellt, vielleicht zwei Monate, aber die meisten hatten ihn sofort ins Herz geschlossen. Ich stolperte verwirrt durch die Mengen an Schülern, die sich im Speisesaal sammelten. Einige tuschelten aufgeregt. Andere wenige weinten und betrauerten den verstorbenen Lehrer. Meine Gedanken kreisten jedoch nur um Alva. Ich hatte sie noch nicht gesehen. Ich wusste, sie war unschuldig, obwohl alles darauf hin deutete, dass...

"Catherine." Eine Jungenstimme riss mich aus den Gedanken. Martin. Er hatte mich nicht wie üblich 'Missy' genannt. Seine Lippen umspielte nicht das Lächeln, was er sonst an den Tag legte. Sein Gesichtsausdruck war ernst, seine Stirn warf einige Falten. Mir wurde schlecht. Ich krümmte mich leicht. Ich wollte weg. Ich wäre am Besten gar nicht aufgestanden. Martin kam mit großen Schritten auf mich zu und schlang seine Arme um mich. Ich rührte mich nicht, sondern vergrub stumm den Kopf in seiner Schulter. Ich wollte wirklich nicht weinen. Aber dann dachte ich zurück an die Nacht und die Bilder tanzten in Zeitlupe an meinem inneren Auge vorbei, wie ein Schattenspiel. Alvas unendlich trauriger und zugleich entsetzter Blick, als sie mich sah. Die hilflose Situation, der sie ausgeliefert war. Und ich hatte ihr nicht helfen können. Ich hatte sie nicht festhalten können. Eine Träne lief mir über die Wange. Aus dem Augenwinkel erblickte ich drei weitere Schemen, die auf uns zu kamen. Dorothy, George und Frank. Alle drei sahen unbeschreiblich traurig aus und Dorothy rannte auf mich zu, schubste Martin beiseite und schloss mich in ihre Arme, um mit mir zu weinen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, in der wir nur da standen und weinten.

"Sie war es nicht", flüsterte ich, immer noch in der Umarmung verharrend. "Ich weiß", antwortete Dorothy leise. Martin strich mir sanft über die Haare: "Wir wissen alle, dass sie es nicht war. So gruselig sie auch sein mag, Alva ist keine Mörderin. Wir kriegen das schon wieder hin!" "Aber was", schniefte ich, "was, wenn sie sie nun wegschicken? Ich will... Ich will sie nicht verlieren." Der ganze Kummer brach aus mir heraus, als wäre ein Damm gebrochen. Wie eine große Flutwelle überschwemmte er meine Glieder und ließ mich kurz zusammenzucken. Frank legte mir aufmunternd eine Hand auf die Schulter: "Ich denke, dafür haben sie noch zu wenig Beweise. Wir werden es aber bestimmt gleich erfahren."
Frank sollte Recht behalten.

Traurig und ein wenig verwirrt von meinem plötzlichen Gefühlsausbruch folgte ich meinen Freunden zu einem leeren Tisch. Wir aßen nichts. Dafür war einfach keine Zeit.
Kaum setzten wir uns, als die Schulglocke kurz leutete. Mr. Wilburry betrat den Speisesaal und hätte ein Schüler geredet, so wäre er spätestens jetzt still gewesen.
Ich blickte in das ernste Gesicht eines älteren Mannes mit schwarzen, leicht gräulichen, kurzen Haaren, dicken Augenbrauen und der Statur eines Ochsen. Er war nicht sehr groß, dennoch fühlte man sich von ihm durchgehend bedroht. Die kleinen, dunklen Augen sprühten von Ehrgeiz und Weisheit. Er mochte nicht der netteste Mann sein, dem ich je begegnet war, aber er war auch nicht der unsympathischste.
Nun räusperte er sich deutlich, um die Wichtigkeit seines Erscheinens zu unterstreichen. "Nun, liebe Schülerinnen, liebe Schüler", begann er eine Spur zu laut mit seiner donnernden, tiefen Stimme. "Wie ihr sicher mitbekommen habt, hat sich in der vergangenen Nacht ein Todesfall zugetragen. Man hat unseren neuen und geschätzten Kollegen Mr. Marsh erstochen vorgefunden." Ein Raunen ging durch die Menge und verebbte wieder. Wilburry fuhr fort: "Wir können durch die Absprache mit der Polizei nicht viel mehr dazu sagen, außer: Eine Schülerin wird verdächtigt, gestern Nacht eingedrungen zu sein und Mr. Marsh erstochen zu haben. Da wir Sie keiner Gefahr aussetzen wollen, liebe Schüler und Schülerinnen, hat das Kollegium folgendes beschlossen." Er machte eine kurze Pause. Das Flüstern und Tuscheln war wieder da. Ich versuchte nicht hin zu hören, doch ich bemerkte all die Blicke auf mir und meinen Freunden. Natürlich. Wir waren ja auch die Einzigen, die etwas mit Alva zu tun hatten. "Das Mädchen wird auf Grund mangelnder Beweise und Absprache der Eltern vom Unterricht auf unbestimmte Zeit suspendiert, aber nicht von der Schule verwiesen. Sie darf nach dem Abendessen ihr Zimmer nicht mehr verlassen und wird ständig von einer oder mehreren Personen begleitet." Er suchte mich, Martin, Frank, Dorothy und George in der Menge und schenkte uns einen mahnenden Blick. Mein Herz schmerzte, so stark wie es pochte. Man würde sie nicht rausschmeißen. Ich würde bei ihr sein können. Wir konnten alles wieder richten. Ich fühlte mich befreit von all den Sorgen, die mich die Nacht über wach gehalten hatten und Freude kam in mir auf. Dorothy lächelte, Frank und George zwinkerten mir zu und Martin nickte glücklich.
Aber Mr. Wilburry war noch nicht fertig: "Des Weiteren wird es Abends eine Aufsicht auf den Gängen geben. Ihr dürft das Gebäude nach 19 Uhr nicht mehr verlassen. Und bitte: Falls irgendwer von euch etwas gesehen oder gehört hat, zögert nicht, einen Lehrer oder die Beamten der Polizei hinzu zu ziehen. Und noch etwas: Wir lassen uns nicht daran hindern in diesen Zeiten froh zu sein. Das Frühlingsfest wird natürlich stattfinden."
Wir alle stimmten höflich applaudierend zu, dann verabschiedete er sich und ging.
"Siehst du?" sagte George, "es ist doch noch alles gut gegangen." "Ja", flüsterte ich. Ich fragte mich, wie es Alva ging, was sie wohl gerade tat. Sie ist nur suspendiert, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber mein Herz hörte nicht auf mich. Ich wollte sie sehen. Ich musste sie sehen.
Ich musste sie fragen, was genau passiert war. Vielleicht könnten wir alles zusammen lösen?

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt