Dunkelheit

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Es war nach dem Abendessen.
Die ganze Zeit hatten wir darüber gerätselt, wer Henrietta Dover sein könnte. Sie musste uns einfach schon einmal über den Weg gelaufen sein. Aber Alva konnte sich auch nicht mehr an sie erinnern. Sie hatte alle Erinnerungen verdrängt. Wir hatten beschlossen, uns in den nächsten Tagen so genau wie möglich umzuschauen. Denn was blieb uns übrig?
Außerdem sollte ich bei Alva schlafen - zum Schutz. Damit war ich sehr einverstanden. Noch mehr Zeit mit dem wundervollsten Mädchen zu verbringen. Wer würde da Nein sagen?

Die Sonne setzte sich langsam und der Himmel nahm sein hübschestes Farbenkleid an. Ich mag die Abendstunden sehr. Da werde ich immer nostalgisch. Gemeinsam schlenderten Alva und ich Hand in Hand durch den Gang zu Ihrem Zimmer. Manchmal kam uns ein Lehrer entgegen und grüßte uns. Dann ließen wir uns kurz los und grüßten zurück. Es durfte ja niemand mitbekommen, dass wir zusammen waren. Wer weiß, was dann mit uns geschehen würde.

In Alvas Zimmer setzten wir uns auf das Bett und ich begann meine Hausaufgaben zu machen. Zum Glück ist meine Freundin so begnadet in Geschichte, also war es ein Leichtes, die Aufgaben zu lösen, um mich dann ganz ihr zu widmen.
Wir lagen einfach nur da, sie in meinem Arm, und genossen die Stille zu zweit. Plötzlich löste sich Alva von mir und dann war ihr Gesicht über meinem. Ihr ganzer Körper war über mir und ihre Hände hielten meine rechts und links von meinem Kopf auf der Matratze. Das Mädchen grinste und ihre Augen leuchteten. Ihre blonden, langen Haarsträhnen kitzelten meine Wangen und ich musste auch grinsen. "Hab ich dir je gesagt, dass ich dich liebe?", fragte sie. Und mein Herz wollte mal wieder fast explodieren. "Nein", murmelte ich. Das hatten wir beide wirklich noch nicht. Es war immer überflüssig gewesen, denn ich wusste es auch so. Und sie auch. Dennoch war es ein unbeschreiblich schönes Gefühl, als mir Alva nun genau diese Worte ins Ohr flüsterte und mich in einen langen Kuss zog. Vielleicht der längste, den ich je hatte.
Bei ihr konnte ich mich entspannen und ich selbst sein und das schätzte ich so an ihr. "Ich liebe dich auch", brachte ich stotternd hervor, als sie sich wieder neben mich legte. "Ich habe aber irgendwie Angst", flüsterte sie nach ein paar Sekunden. "Henrietta könnte gefährlich sein. Und hartnäckig. Sie plant das ganze ja schon seit Jahren... Ich möchte nicht... Sterben." Ich streichelte sie beruhigend, wusste aber nicht, ob es ihr irgendwie half. "Du wirst schon nicht sterben. Wir passen alle auf dich auf und wir finden Henrietta." Alva seufzte nur und drehte sich auf die Seite, sodass sie mich anschauen konnte. "Catherine, warum bist du so toll?", fragte sie verträumt. Manchmal war sie zuckersüß.
Ich konnte nur lächeln und mit den Schultern zucken. "Warum bist du so perfekt?", fragte ich sie zurück, was in einem Lachen endete. "Aber mal ehrlich", sagte Alva, nun wieder ernst, "Hast du eine Vermutung, wer es sein könnte?" Ich kratzte mich verlegen am Kopf. "Es kann nur eine Lehrerin oder eine Mitarbeiterin sein, wenn sie wirklich hier ist. Und wenn ja, dann auch nur eine Junge. Wie viel älter als du war sie nochmal? Fünf Jahre? Da kommen nicht viele in Frage." "Gruselig", murmelte Alva und kuschelte sich an mich, "Hoffentlich arbeitet sie nicht in der Küche... Das würde mir den Spaß am Essen verderben." Ich musste lachen: "Das geht nicht. Das ist unmöglich." Sie streckte mir nur die Zunge heraus und drehte sich samt Decke auf die andere Seite. Ich umarmte einfach ihren Rücken. Und irgendwann schliefen wir ein.

Ich weiß nicht mehr, warum ich aufgestanden bin und das Zimmer verlassen habe. Aber ich weiß noch, dass es auf dem Flur sehr kalt und dunkel war. Ich tastete mich an der Wand entlang, bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte.

Und dann erhaschte ich den kleinen Lichtschein auf dem Flur. Es kam aus einem der Lehrerzimmer und war gelblich und schwach. Das Licht zeichnete sich deutlich unter dem Türspalt ab. Dann erblickte ich eine Person vor der Tür. Sie klopfte leise. Schnell drückte ich mich an die Wand. Ich wollte nicht entdeckt werden. Gebannt beobachtete ich die Szene.
Der Lichtschein wurde breiter und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Für einen kurzen Moment konnte ich das Gesicht der Person sehen und hätte beinahe vor Verwunderung aufgeschrien.

Es war Carter.

Was machte Carter denn um diese Uhrzeit im Zimmer eines Lehrers oder einer Lehrerin? Tausend Gedanken sprudelten in meinem Kopf herum, einige von belanglosen Dingen, wie Aufsätze oder Hausaufgaben, andere von Dingen, von denen ich mich nicht traue, zu berichten, weil sie so moralisch verwerflich sind.

Jedenfalls war meine, bis dahin sinneshemmende, Müdigkeit wie verflogen und meine Neugier gewann Überhand. Wenn ich jedoch nun genauer darüber nachdenke... Vielleicht war es doch eher die Müdigkeit, die mich so etwas Dummes hat tun lassen.

Ich hielt es für eine gute Idee, nachzuschauen, was Carter und der Lehrer denn machten. Ich hatte mir jedoch keine Ausrede überlegt, warum ich zu dieser Zeit noch wach war. Ich wollte improvisieren. Also ging ich einfach zu der dunklen Holztür und klopfte drei Mal. Nach einem kurzen Zögern, bei dem ich mich nicht entschloss, doch wieder ins Bett zu gehen, öffnete ich die Tür und trat ein.

Das Zimmer war ein kleines Büro mit angrenzendem Schlaf- und Badezimmer. Die Tapete war grün und alt, genauso wie der Teppich auf dem Fußboden. Es war ungewöhnlich kalt, wahrscheinlich stand das Fenster offen. Ich wollte gerade einen Schritt vorwärts machen, da spürte ich plötzlich einen Schlag auf meinem Kopf. Dumpf dröhnte es in meinem Schädel wieder, sodass ich direkt Kopfschmerzen bekam. Ich versuchte die Ursache des Schmerzes ausfindig zu machen und schaute mich verwirrt um. Aber ich konnte mich nicht orientieren. War das Ticken der Wanduhr etwa lauter geworden? Schemenhaft erblickte ich noch eine Gestalt auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes sitzen, dann wurde alles schwarz und ich fiel unsanft auf den Boden.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt