Der geheime Raum

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"Scheiße."

Es war das erste Mal, dass ich Frank fluchen hörte. Aber ich drehte mich nicht zu ihm um oder entgegnete irgendetwas. Ich selbst war viel zu verwirrt von dem Anblick, der sich uns bot.
Der Raum hinter der Tür war klein und rötliches Licht fiel auf einen Schreibtisch aus Metall, vor dem ein silberner Hocker mit Rollen stand. Ihr denkt euch vielleicht: "Was ist an so einem Raum schon besonders?" Ich werde versuchen, es euch genaustens zu beschreiben.

Um uns herum spannten sich Leinen aus weißen, dicken Fäden, die sich wie ein Spinnennetz über den Raum legten. An den Leinen hingen, mit Wäscheklammern festgemachte, Papiere. Es roch nach Papier und einer Chemikalie, die ich irgendwo her kannte.
Wir schauten uns neugierig die aufgehangenen Dinge an und plötzlich wusste ich, wonach es roch. Die Chemikalie benutzte man zur Fotoentwicklung. Mein Onkel besaß so ein Dunkelzimmer in seinem Keller und entwickelte dort seine geschossenen Naturfotos. "Es sind Fotos", flüsterte ich. Es waren wirklich gute Fotos. Sorgfältig gemacht, sodass man viel darauf erkennen konnte. Martin schaltete sich ein: "Ich weiß ein bisschen was über Fotografie. Und die hier sind wirklich gut. Auch wenn es noch schwarz-weiß Bilder sind, die anscheinend mit einem älteren Modell geschossen wurden... Respekt!" "Was erkennt ihr so auf den Fotos?", fragte George in die Runde. Er war weiter hinten im Raum und schritt eine Reihe entlang. "Die Schule... Natur... Bilder der Bibliothek. Und... Schüler." Carter war vor einem Bild stehen geblieben. Langsam und mit zitternden Händen nahm er es ab. Frank kam hinzu und schaute sich das Foto über Carters Schulter hinweg an. "Das bist du, oder?", fragte er leise und erstaunt. "Ja", krächzte Carter heiser, "Aber wie kann es davon ein Foto geben? Ich schwöre, wir waren alleine..." Anscheinend war es ihm wirklich peinlich und ich wollte nicht unhöflich sein, also ging ich nicht hin, um es mir anzuschauen. "Das ist gruselig. Warum sollte Mr. Marsh Fotos von uns machen?" Dorothy hatte die meiste Zeit in der Tür gestanden. Nun kam sie zögernd herein und sah sich selbst um. Auch ich widmete mich den Fotos, die vor mir hangen.

Ich erkannte den Hund des Hausmeisters, Pollux, der einem Vogel hinterher jagte. Auf einem anderen Bild waren einige der Bänke auf dem Hof zu sehen. Auf dem dritten Bild war... "Hey. Hier bin ich drauf." Meine Freunde wurden hellhörig und kamen zu mir. Ich zeigte ihnen das Foto. Ich saß im Musikraum am Klavier, neben mir standen Meredith und Gwenevire. "Das ist... Das war... Am Nachmittag vor dem Mord." "Das ist wirklich gruselig", sagte jetzt auch George.

"Und das hier ist das Gruseligste. Kommt Leute. Seht euch das an."

Frank war zum Metalltisch gegangen und hatte ihn näher begutachtet. Jetzt hatte er einige Papiere beiseite geschoben und seine Finger lagen auf einem Postkarten großen, alten schwarz-weiß Bild.
Ich erstarrte.
Es war ein kleines Mädchen. Ungefähr sieben.
Sie trug ein schwarzes, vornehmes, hübsches Kleid mit einem Schmuckstein und einer weißen Schleife.
Ihre Augen glänzten. Und obwohl das Foto farblos war, wusste ich, dass sie blau waren. Eisblau. Und das Mädchen hatte lange Haare, die liebevoll gelockt und hochgesteckt waren. Und ich wusste, dass sie blond waren. Ich wusste, dass sie hell-blond waren.

"Alva!"

Ich drehte mich um. Meine Freundin stand stumm in der Mitte des Raumes. Sie zitterte merklich am ganzen Körper. Sie wirkte noch hilfloser und noch zerbrechlicher, als an dem Abend, wo sie des Mordes beschuldigt wurde. Ihre Augen waren kraftlos und starrten geradeaus. Sofort stürzte ich vor und schloss sie in meine Arme. Ich merkte, wie sie kurz zusammenzuckte. Vorsichtig streichelte ich ihren Rücken. Ich spürte, wie sie leise weinte und ich löste mich nicht eher von ihr, als dass sie aufgehört hatte.

Sie schaute uns nicht an, sondern starrte auf den Boden. "Warum hat Mr. Marsh ein Foto von dir als Kind?" Sie schwieg. Mir zerbrach mein Herz. Ich wollte sie nicht so sehen. Es machte mich auch traurig. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Martin zog mich plötzlich zu sich. "Ich hab eine Idee", flüsterte er. "Geh mit ihr wieder hoch, bring sie in ihr Zimmer und dann bleib bei ihr, bis sie sich beruhigt hat. Wir anderen bleiben hier und schauen uns das mal genauer an, okay?" Ich nickte und umarmte ihn. Ich dankte jedem meiner Freunde, auch Carter, mit einem stummen Blick und nahm vorsichtig Alvas Hand. Ihr Gang war schwach, sodass ich sie bald mit meinem Arm stützen musste und es dauerte lange, ehe wir ihr Zimmer betraten.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt