Des anderen Tod

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Henrietta war äußert kräftig, das musste man ihr lassen. Sie schob erst mich, dann Carter aus dem Schlafzimmer hinaus in ihr Büro, in die Mitte des Raumes. Ich konnte Carter nun endlich in die Augen blicken. Er sah sehr müde und zerzaust aus. Kraftlos. Wir tauschten fragende Blicke, konnten aber immer noch nichts sagen. Dafür schien Henrietta weit aus gesprächiger. Immer wieder nannte sie uns ihre "Vögelchen" und lachte und sang und sagte, wie froh sie doch sei, wenn das alles vorbei sei. Ich glaube, dass wir so ungefähr 20 Minuten in ihrem Büro verbrachten, ehe es an der Tür klopfte. Henrietta klatschte in die Hände und kramte in einer Schreibtischschublade. Ich hatte meinen Blick auf die Tür gerichtet. Die Klinke wurde nun ganz langsam herunter gedrückt und langsam öffnete sie sich.

Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Das Erste, was mich in Aufregung versetzte, war Alva. Sie stand in der Tür, den Blick auf mich gerichtet, voller Angst und Panik. Dann drehte sie ihren Kopf, genauso wie ich, zu der Richtung, aus der wir einen leisen Schrei gehört hatten. Und das war das Dritte und wahrscheinlich Schlimmste, was passierte. Der, der geschrien hatte, war Carter. Henrietta stand hinter ihm, hatte sich über seine Schulter gebeugt und in ihrer Hand... In ihrer Hand war ein großes Küchenmesser. Sie hielt es Carter an den Hals, die Messerspitze drückte leicht in die Haut, aber es tropfte noch kein Blut.
Trotzdem atmete er schwer und starrte panisch und ängstlich zwischen dem Messer, mir und Alva hin und her.

"Alva. Wie schön, dass du da bist", säuselte Henrietta, "Bitte mach die Tür zu." Alva tat zitternd, wie ihr gesagt wurde. "Schön. Dann komm doch bitte etwas näher." Zögernd ging Alva einen Schritt nach vorn. "Erinnerst du dich an mich?"

"Du bist Henrietta. Henrietta Dover."

"Richtig. Und erinnerst du dich noch an den einen Tag?"

"An das Feuer? Ja. Es tut mir leid, ich wollte nicht-!"

"Sei still. Natürlich wolltest du. Du bist eine Mörderin. Du hast meine Mutter umgebracht!" Henriettas Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen. Es war gespenstisch und furchterregend, am liebsten würde ich gar nicht hinsehen wollen, aber ich tat es trotzdem.
Das Messer hielt sie immer noch an Carters Kehle.

"Du hast sie umgebracht. Mit einem Feuer. Passend zu deinem Namen! Wie lustig. Nicht wahr? Hast du dich je gefragt, was aus mir geworden ist? Bestimmt nicht. Dazu warst du dir zu schade, oder? Dich darum zu scheren, welchem armen, kleinen Kind du das Leben zerstört hast. Gelitten habe ich! Im Waisenhaus war ich schwach und allein und niemand wollte mich. Man hat mich nur benutzt! Dann... Ja dann. Dann kamen sie plötzlich. Mrs. und Mr. Brooklyn. Sie haben mich aufgenommen. Waren die Familie, die du mir genommen hattest! Aber weißt du, was mich immer gequält hat? Nacht für Nacht habe ich den Tag erlebt, an dem meine Mutter starb. Nacht für Nacht das Feuer zum Feind. Dabei ist es doch so schön, oder? Feuer ist so beruhigend. Es ist hell und warm, spendet Trost und zerstört und alles ist Feuer.
Und ich habe gelernt, wie wundervoll das Feuer ist. Ich habe Dinge verbrannt, alles was ich nicht mehr haben wollte. Und immer habe ich mich an dich erinnert. An diese Mörderin, die mein Leben ruiniert hat.

Also habe ich dich gesucht. Ich habe dich gesucht und habe dich gefunden. Und du hast mir wieder und wieder bestätigt, was für eine Mörderin du bist.

Als erstes der Schulbrand, dann Mr. Marsh. Du wirst immer schlimmer. Macht es dir Spaß, uns zu quälen?"

Sie redete schnell und hastig, unterbrach sich mehrere Male und ihre Stimmlage variierte von hoch zu tief.
Aber Alva war ganz ruhig und schaute aus dem Fenster hinter Henrietta.
"Das mit dem Schulbrand war ich nicht. Und Sophia Kuscova hat Mr. Marsh getötet."
"LÜGNERIN!", schrie Henrietta. Ihre Augen sprühten Hass. Alle Masken waren gefallen und man konnte sehen, dass sie durch und durch wahnsinnig war.
"Du musst es getan haben. Du musst einfach! Du warst da und ich hab dich gesehen. Ich habe dich ertappt! Aber die Polizei glaubte es nicht. Nie glaubt mir jemand. Du verdienst Strafe für das, was du mir angetan hast. Dafür habe ich meine Vögelchen. Erst wollte ich nur den hier", mit der Messerklinge fuhr sie leicht Carters Brust entlang. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. "Aber sie habe ich auch gefangen. Und zu soetwas sagt man doch nicht nein. Sie ist ja schließlich deine beste Freundin, oder?" Henrietta deutete kurz auf mich, dann widmete sie sich wieder dem Messer und Carters Kehle.
Ich fragte mich, wie Alva nur so ruhig bleiben konnte. War ich ihr etwa völlig egal? Hatte sie mich nicht geliebt? Nur mit mir gespielt? Schnell verwarf ich diesen Gedanken. Das würde sie nicht tun.
Aber sie tat auch nichts anderes. Sie hörte einfach Henrietta zu.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt