Es wurde schon dunkel, als es endlich zum Abendessen klingelte. Ich hatte Alva und Dorothy seit unserem letzten Treffen nicht gesehen. Den Rest des Tages verbrachte ich draußen, zuerst unter meinem Lieblingsbaum. Es war ein hochgewachsener Walnussbaum, dessen helle Blätter während des Sommers im Licht der Sonne funkelten und der wunderbaren Schatten warf. Ich saß oft unter den vielen Zweigen und lauschte dem Wind, der die Blätter zum Wispern brachte. Im Januar trug er aber keine Blätter und war es trotzdem noch zu kalt, als dass die Sonne mich allein hätte wärmen können, also musste ich mir irgendwann einen anderen Platz zum träumen suchen. Unser Campus glich eher einem sehr großen Innenhof als einer Schule. In der Mitte gab es eine größere Grünfläche, wo auch der besagte Walnussbaum stand, ansonsten war der ganze Hof mit Kies ausgeschüttet, der unter den Füßen knirschte. An einer Seite des rechteckigen Hofs stand das imposante Hauptgebäude, mit der roten Backsteinfassade. Nicht gerade ein schöner Bau, aber zweckmäßig. Fünf lange, breite Stufen führten zur doppelten Eingangstür, die der eines Schlosses ähnelte, so, wie man es aus den historischen Filmen kennt, hinauf. Sie war mit Eisen beschlagen, aus irgendeinem dunklen Holz und an ihren Flügeltüren hingen zwei Türklopfer in Formen von Schlangenköpfen. Ansonsten war die Vorderfront nicht sehr spektakulär und glich der, einer normalen Schule. Links des Gebäudes befand sich das Haus mit den Schlafräumen für die Mädchen der Schule, rechts das der Jungen. Beide bestanden ebenfalls aus dem roten Backstein, jedoch rankten sich kleine Efeupflanzen um die Ziegel. Sie ragten drei Stockwerke in die Höhe, jedes, bis auf das Erdgeschoss, beinhaltete 16 Räume - also 51 Räume insgesamt. Das mag nicht viel sein, aber es reichte für 3 Schüler pro Raum. Im Mädchenhaus war es immer voller, als im Jungenhaus und dieses Jahr waren wir komplett besetzt - weshalb Alva auch ein Einzelzimmer im Hauptgebäude bekommen hatte. An den Enden waren die Unterkünfte der Schüler mit dem Hauptgebäude verbunden, sodass wir nicht jeden Morgen über den Campus laufen mussten. Das war ein Vorteil, wenn es im Winter eiskalt war. Ich blinzelte gegen die Sonne und hielt meine Hand gegen die Stirn. Von hier unten konnte ich mein Zimmer nicht erkennen. Es lag im zweiten Stock auf der Rückseite des Hauses. Ich teilte es mir mit Meredith Atkins und Gwenevire Potter. Beide waren sehr nett, wir kamen gut miteinander aus und liebten Musik. Meredith spielte Klarinette und Gwen konnte wundervoll singen, was sie in Mrs. Millers Chor gerne unter Beweis stellte. Schräg gegenüber, der Raum hinterm zweiten Fenster von links, lag Dorothys Zimmer. Ihre Mitbewohnerinnen waren Baverly Pommeroy - Theaterstar und Buchfanatikerin - und Hannah Lewis - Mathegenie und stolzes Mitglied im Schachclub. Ich fragte mich, was meine Mitbewohnerinnen wohl gerade machten. Auf dem Campus waren sie auf jeden Fall nicht. Gerade wollte ich unser Wohnhaus betreten, da hörte ich jemanden meinen Namen rufen: "Cat! Catherine. Hallo!" Ich drehte mich um und sah zu meiner Verwunderung Elizabeth Hanson mit den Armen winken. Sie saß auf einer der vielen Bänke neben Oliver Williams und Isabelle Sterling. Elizabeth spielte, so wie ich, Klavier in der Musikgruppe und war der Lehrerliebling der Schule. Auch wenn sie nicht sehr schlau war, gut reden konnte sie und ihren dunklen Augen mit den langen Wimpern konnte man schlecht widerstehen. Mit Oliver und Isabelle hatte ich wenig zu tun. Oliver war klein, etwas pummelig und hatte dichte, dunkelbraune Haare, die ihm ins Gesicht hangen. Seine haselnussbraunen Augen versteckte er unter einer großen, runden Brille. Sehr viel größer war Isabelle. Sie war von uns allen die größte, Co-Kapitän der Schwimmmannschaft und ziemlich kräftig. Ihre blonden Haare trug sie wie immer in einem sehr strengen Pferdeschwanz, sah überhaupt nicht begeistert von meinem Erscheinen aus und funkelte ihre Freundin böse an. Elizabeth jedoch lächelte. Mit ihrer sanften, tiefen Stimme sagte sie: "Hallo Catherine. Wir-" Oliver stupste sie warnend an und sie erntete von Isabelle einen wütenden Blick. Sie korrigierte sich hastig: "Ich" - Sie legte ihre Augen auf die andern zwei und machte eine kurze Pause. "Ich habe mich gefragt, ob du Martin nicht etwas ausrichten kannst. Ihr seid doch richtig gute Freunde, oder nicht?" Ich runzelte die Stirn und musterte die drei. Irgendetwas war hier faul. Auf Elizabeths Lippen lag immer noch dieses charismatische Lächeln, was Lehrer gerne in die Irre führte. Olivers Stirn ertrank in Schweißtropfen, er rutschte nervös hin und her und Isabelle... Isabelle hatte sich leicht weggedreht und ihr Kopf leuchtete rosa. Sie hatte die Faust geballt und biss sich auf die Unterlippe. "Du bist doch nicht-", wollte ich ansetzen, doch Oliver fiel mir ins Wort: "S-Sag ihm einfach, dass er heute Abend zum Walnussbaum kommen soll. So gegen- gegen acht." "Warum sagst du es ihm nicht? Du siehst ihn doch öfter als ich." Oliver schüttelte schnell und ernergisch den Kopf: "Nein. D-Das käme seltsam und er würde ablehnen, bei dir w-würde er-" "Wenn du ihn fragst, muss er 'ja' sagen. Du bist schließlich seine beste Freundin." Elizabeths Lächeln wurde nur stärker. Ich schaute wieder zu Isabelle. Sie saß immer noch sehr verkrampft da. Ich konnte es noch nicht richtig begreifen, aber was ich gerade erfahren hatte, war nicht gut. Aber ich wollte sie nicht enttäuschen. Das wäre gemein. Also zwang ich mich zu einem Lächeln und nickte: "Okay. Treffen wird arrangiert. Aber ihr solltet ihr vielleicht vorher ein wenig die Angst nehmen." Dann hob ich die Hand halb zum Gruß und drehte mich um. Mein Lächeln erstarb. Isabelle Sterling war in Martin verliebt. Ich wüsste schon, wie das ausginge: Nicht sehr gut. Isabelle tat mir leid. Sie war definitiv nicht Martins Typ und was immer sie sich von dem Treffen erhoffte, es würde bestimmt nicht so verlaufen. Nachdenklich ging ich die Stufen hinauf ins Haupthaus.
"Noch einmal von vorne. Aber jetzt achte auf die leisen Töne." Ich fand Meredith und Gwen im Musikraum. Meredith übte das Stück, was wir letzte Woche angefangen hatten. Nach einigen Sekunden, die ich lauschend vor der Tür verbrachte klopfte, ich kurz an den Türrahmen und trat dann ein. "Hallo. Hört sich ja schon gut an! Gwen, hast du nicht noch auch was zu üben?" Gwenevire lächelte und ich sah ihre Zahnspange blitzen. "Hi, Cathy! Ja. Aber das kann ich schon fast perfekt. M braucht meine ganze Aufmerksamkeit." "Ich schaff es nicht, so plötzlich leise zu werden und dann wieder laut", gab Meredith zu und streifte eine braune Locke aus ihrem Gesicht. "Kannst du mich nochmal mit dem Klavier begleiten? Dann fällt es mir vielleicht leichter." "Ja. Das mach ich gerne", erwiderte ich und setzte mich an das kleine, graue Klavier. Es war ein Ort der Ruhe. Musik hatte mich schon immer entspannt. Und dieses Klavier war wie ein bequemes Bett, in das man sich am Ende eines anstregenden Tages wirft. Die Saiten mussten zwar bald mal wieder nachgestimmt werden, aber abgesehen davon klang es wunderschön.
Zusammen spielten Meredith und Ich das Stück mehrmals fehlerfrei durch und ernteten großen Applaus von Gwen. Ich weiß nicht mehr, wie lange genau es noch bis zum Klingeln dauerte, aber ich weiß, dass ich diesen Nachmittag mehr genossen hätte, wenn ich gewusst hätte, was in den nächsten Tagen auf mich zu käme.
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Der Tanzbär // Abgeschlossen
Adventure"'Hast du Angst?', flüsterte sie. 'Du weißt, was dort ist und du weißt, was passieren könnte.' [...] Aber ich schüttelte den Kopf und gemeinsam drehten wir den Schlüssel im Schloss herum und lauschten dem leisen Klicken des Mechanismus, als die Tür...