Der Gemeinschaftsraum

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"Wie war dein Tag heute?" "Künstlerische Gestaltung war sehr langweilig." Alva saß am großen Tisch im Gemeinschaftsraum und kritzelte Bleistiftgestalten auf ein weißes Blatt. Sie war allein. Die anderen mieden sie wie immer. Aber wir waren Freunde geworden. Sogar recht gute Freunde. Alva nahm mittlerweile einen festen Platz in meiner Freundesgruppe ein und sorgte für den fehlenden Spaß nach einem langen Tag voll Sport, Französisch und Wissenschaften. Ich habe nicht wirklich was gegen diese Fächer, aber jeder hat seine Stärken und Schwächen und andere Präferenzen. Zwar traten Dorothy, meine beste Freundin, George und Frank, Martins Freunde und Zimmergenossen, ihr zuerst mit Abstand gegenüber, aber lange dauerte es nicht, bis sie von der frechen und wundervollen Art des Neuzugangs überzeugt waren. Alva tat es gut, so gemocht zu werden. Ich sah wie ihre Augen jedes Mal aufleuchteten, wenn sie einen von uns grüßte und wie sie mehr und mehr zu lächeln begann. Aber die anderen Schüler konnten es nicht sehen. Für sie war Alva seit zwei Monaten immer das kleine, gruselige, dürre Mädchen gewesen, welches für Angst und Schrecken sorgte. Auch bewohnte sie immer noch das kleine Zimmer am Ende des Flures und war nicht gern im Gemeinschaftsraum zu sehen. Sie traute sich nur selten hierher, verbrachte mehr Zeit in der Bibliothek und wälzte alte Bücher durch.

Doch auch wenn wir gute Freunde geworden waren, gab es so vieles, was ich nicht von ihr wusste.

"Was habt ihr denn heute so gemacht?", fragte ich und setzte mich neben sie. Alva seufzte und legte ihren Stift beiseite. Ihre wundervollen Augen blitzten leicht auf, während sie es sich auf dem Stuhl bequem machte: "Also. Unsere Aufgabe war es, Stillleben zu zeichnen. Mrs. Walker hatte Äpfel dabei und einige Blumen. Wir konnten uns aussuchen, was wir zeichnen wollen. Äpfel sind natürlich leichter als Blumen und deshalb habe ich mich für einen Apfel entschieden. Brandon auch, obwohl er so sehr begabt ist und diese Blumen bestimmt gut getroffen hätte. Er saß neben mir und hat mich die ganze Stunde lang ignoriert. Natürlich. Ist jetzt auch nichts Neues." Sie stützte sich mit ihren Händen an der Sitzfläche ihres Stuhles ab und beugte sich nach vorne. Sie starrte auf ihre Zeichnung. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, aber sie ignorierte sie und sprach weiter. "Er hätte einfach still sein können und es wäre alles in Ordnung gewesen. Aber natürlich musste er es tun. Er hat mich mit der bösen Königin aus Schneewittchen verglichen. Und dann kam Julia Wood vorbei, dieses nervige Biest, und hat sich natürlich mit Brandon über mich mit lustig gemacht, da sie ja vollkommen in ihn verliebt ist... Du weißt gar nicht wie wütend ich war." Sie entspannte sich und nahm wieder den Bleistift in die Hand und kritzelte weiter irgendwelche Strichmännchen auf ihr Blatt. Diesmal waren die Striche dunkler und ihre Knöchel weiß, da sie fest auf das Papier drückte. Ich hätte um mein Leben gewettet, die Miene wäre abgebrochen, wäre nicht Dorothy in den Gemeinschaftsraum gekommen und hätte uns abgelenkt: "Hallo! Na, was macht ihr schönes?" Dorothy Moore, ein wahrer Engel. Sie spielte Geige in der Musikgruppe und war auch ziemlich gut darin. Ebenso war sie eine sehr gute Schülerin in Wissenschaften und Mathematik und selbst in Französisch lag sie dicht hinter Martins Können. Neben ihrer guten Seele, dem großen Herz für Tiere - Insekten eingeschlossen - und ruhiger, zurückhaltender Art, war sie ausgesprochen hübsch. Ihre roten, lockigen Haare bändigte sie liebend gern mit Reifen oder Schleifen und ihr rundes Gesicht war mit Sommersprossen gesprenkelt. Zudem besaß sie die kräftigsten und blausten Augen, die man nur haben kann. Kein Wunder also, dass sie mit einem weiteren meiner besten Freunde ging: George Roberts. George und Dorothy passten perfekt zusammen, sie behandelten sich jedoch mehr wie Freunde, als Geliebte. Eine Beziehung in unserem Internat war nicht verboten, jedoch sehr schwer aufrecht zu erhalten, da wir die Jungen ja nur meistens beim Essen sahen, oder in den Fächern Künstlerische Gestaltung und Musik - wieso auch immer wir dort gemeinsam unterrichtet wurden, dafür in allen anderen Fächern getrennt...

Auch heute saß Dorothys Haar perfekt, gehalten von einer azurblauen Schleife. Sie stand zwar etwas verloren im Raum und spielte an den Falten ihres Rockes, aber das war nebensächlich. "Alva hat mir gerade von ihrem heutigen Ärgernis berichtet", grinste ich. "Ich will eben keine böse Königin sein", entgegnete sie schnippisch. Ich nickte und mein Grinsen wurde noch breiter: "Nein. Du bist ein Zwerg!" Alva verschränkte trotzig die Arme und hob hochnäsig den Kopf an. Doch erwiderte sie nichts, sondern gab nur ein hohes "Hmpf" zurück. Dorothy lachte leise und setzte sich zu uns: "Also ich verstehe wirklich nur Bahnhof, aber wie mir scheint, hattest du heute einen spannenden Tag. Ich hatte dagegen nicht so viel Spaß in Englisch mit Mr. Pope." "Ohja... Ich verstehe dich. Dabei ist er doch ganz nett... Nur seine Aufgaben stellt er viel zu schwierig." Das Klicken der Tür unterbrach uns. Avery Smith und Abigail Cook betraten den Raum. Sie warfen uns abschätzige Blicke zu. "Na? Habt ihr eurer Gefolge verloren? Ich bin sicher ich habe sie vorhin noch gesehen, als ich in der Bibliothek war. Ich glaube sie haben das Wort Lexikon im Lexikon nachgeschlagen", rief ich ihnen zu. Abigail schnaubte verächtlich: "Klappe Davies. Sie sind beim Proben für das Theaterstück in der Aula." Avery fügte hinzu: "Und da gehen wir jetzt auch hin. Abi hat nur ihr Skript hier vergessen, nicht war Abi?" Das blonde Mädchen nickte und warf sich die Haare über die Schulter. Es sah aus wie in einem schlechten Film. Doch fühlte es sich tausend Mal schlimmer an. Sie riss den Stapel schlampig zusammengehefteten Papieres vom Tisch und stolzierte zur Tür. Ihre Freundin folgte ihr. Doch bevor Avery den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal zu uns um und starrte mir direkt in die Augen. Ihr Blick war kalt, abschätzend und ich hätte mich am liebsten weggedreht, doch ich wollte nicht nachgeben. Sie musterte erst mich, dann Dorothy und zum Schluss Alva. "Wie ich sehe hängt ihr immer noch mit ihr ab. Freaks!"

Dann verließ sie den Raum und wir atmeten auf.

"Puh. Das war ja mal eine Begegnung." Dorothy nickte: "Ja. Die möchte man am liebsten sofort löschen." "Aber Cathy, du hast sie am Anfang echt blöd aussehen lassen", sagte Alva und klopfte mir auf die Schulter. Ich lächelte. Komplimente von Alva zu bekommen machte mich glücklich. "Sagt mal, was macht ihr nach dem Abendessen heute?", fragte Dorothy. "Nichts, du?", entgegnete ich und schaute fragend zu Alva. Sie schüttelte den Kopf: "Ich habe auch nichts vor. Warum fragst du, Dotty? Hast du nicht vor mit George was zu unternehmen?" Dorothy schüttelte den Kopf: "George muss doch mit Martin und Frank lernen... Matheprüfung. Ich hab mir gedacht.. warum kommt ihr nicht bei mir vorbei und wir machen eine kleine Party? Baverly ist heute nicht da, Theater. Und Hannah verbringt ihren Abend mit Schach. Bis 10 hätten wir also freie Zeit." "Party klingt super. Irgendwo in meinem Zimmer habe ich noch eine Tüte Bonbons", überlegte ich. "Und ich verstecke in meinem Schrank seit letzter Woche drei Tafeln Schokolade - die hat mir mein Vater geschickt", fiel Alva dazwischen. Dorothy nickte: "Super. Ich werde Josie um ein oder zwei Flaschen Limonade bitten. Die gibt sie mir sicher." Josie war eine der Küchenhelferinnen und sehr nett. Man konnte sie immer fragen, wenn man außerhalb der Essenszeiten noch etwas naschen wollte und sie antwortete seltenst mit einem Nein. Alva erhob sich von ihrem Platz, zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb in der Ecke: "Also.. Ich muss jetzt gehen. Hab noch einen Aufsatz für Französisch in meinem Zimmer. Wir sehen uns beim Abendessen." Sie hob die Hand zum Abschied und verließ den Raum, nachdem Dorothy und ich ihr ein "Bis nachher" hinterherriefen. Dann erhob sich auch Dorothy. "Ich werde mich jetzt auch an Mr. Popes Aufgaben setzen. Bis später Cathy!" "Ja, bis später", sagte ich und war allein.

Ich hatte meine Aufgaben schon alle erledigt, was sollte ich also jetzt tun? Ich blickte auf die Wanduhr, die leise vor sich hintickte. Noch ungefähr zwei Stunden bis zum Abendessen. Seuftzend stand ich auf und verließ den Gemeinschaftsraum. Ich würde einen Spaziergang über den Campus machen.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt