Der Abend

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Beim Abendessen traf ich meine Freunde wieder. Martin, Frank und George sahen müde aus, dunkle Schatten umrahmten ihre Augen. Sie hatten wohl keine Pausen eingelegt. Dorothy und Alva kamen beide aus der Bibliothek, die Notizbücher noch unter den Armen. Es war schön, in die Masse der Schüler einzutauchen und die Gedanken schweifen zu lassen. Meistens störte mich die Lautstärke und ich wurde unruhig, aber heute gab ich mich dem Gedränge und Geschreie hin und rief meine Freunde lautstark zu mir: "Martin, Frank, George! Hallo!" Frank bemerkte mich, stupste seine Kumpel mit dem Ellenbogen an und deute auf mich. Martin lächelte müde. Dann kamen sie auf mich zu. Jemand legte mir den Arm um die Schulter. Die wohlbekannte Stimme meiner besten Freundin erklang hinter meinem Rücken: "Ohje.. Ihr seht aber gar nicht gut aus." Ich drehte mich um und umarmte Dorothy zur Begrüßung. Alva stand neben ihr und grinste: "Na, hoffentlich geht morgen bei der Vorstellung des Projektes alles gut." Dorothy löste sich von mir, ging sofort auf George zu und umarmte ihn fest: "Ihr schafft das bestimmt!" George lächelte dankbar. Er sah wie immer umwerfend aus. Hellbraune Haare, perfekt gekämmt. Das Hemd ohne Falten mit der schwarzen Hose. Seine Augen strahlten trotz der Müdigkeit ein leuchtendes braun. George war 1,76 Meter groß, was ihn zum kleinsten der drei Jungen machte. Doch für Dorothy war es perfekt, so musste sie sich nicht auf die Zehenspitzen stellen um ihm einen Kuss zu geben, da sie beide fast gleich groß waren. Mit rot leuchtenden Wangen wandte er sich an Frank: "Wir haben heute aber gut gearbeitet. Besser als gestern, oder?" Frank nickte. Er fühlte sich wie immer ziemlich unwohl. Frank war sehr schüchtern und versuchte sich immer kleiner zu machen und sich in den Mengen zu ducken. Doch meist schaffte er es nicht. Als Sohn des reichen und bekannten Firmengründers Francis Silver und mit seiner großen, dürren Erscheinung, wurde er oft gesehen und angesprochen. Seine dunklen Locken zu dem hellen Hautton und die stechend gelb-grünen Augen taten das Übrige. Er kannte Martin seit seinem ersten Schuljahr auf dem Wilburry Internat. Sie waren seither Zimmergenossen und verstanden sich recht gut. Die meisten Mädchen mochten Frank auch. Er wurde von den hübschesten und beliebtesten Mädchen angegafft, als wäre er eine Trophäe. Doch er ließ niemanden an sich ran. Und nur wir wussten warum: Frank stand auf Carter Poe. Carter war einer der Coolen. Einer der Jungs, die sich in der Freizeit und besonders Nachts vom Gelände schlichen und rauchten. Carter war der beste in Sport und befreundet mit anderen Rebellen, wie Samuel Hathaway oder Damien Burningham - der einmal fast von der Schule verwiesen wurde, da er angeblich versucht hatte, die Turnhalle in Brand zu stecken. Da Damiens Vater jedoch ein hohes Tier bei irgendeiner Akademie ist, wurde der Fall beiseite gelegt.
Dass Frank auf Carter stand, hatte er uns im letzten Schuljahr gebeichtet. Naja, wir haben ihn eher angefleht uns zu erklären, warum er alle Mädchen abwimmelt. Frank war daraufhin ganz still geworden und hatte uns mit hinter die Turnhalle gezerrt. "Ihr dürft es niemandem sagen, okay? Niemandem! Wenn das rauskommt, bin ich erledigt", hatte er gesagt und es uns dann erzählt. Wir alle waren etwas sprachlos, versprachen dann aber, es nicht zu erzählen, da wir die hohen Strafen des Sittlichkeitsvergehen kannten und wir Frank sehr ins Herz geschlossen hatten. Ich denke, Dorothy hatte mit ihrem sehr christlichen Weltbild am meisten damit zu kämpfen, aber am Ende besann sie sich auf die Freundschaft mit Frank und mit der Zeit hatte sie es zu akzeptieren gelernt.
"Können wir uns bitte schnell setzen?", fragte Frank, während wir uns, mit leeren Tabletts bewaffnet, durch die Schüler zur Essensausgabe schlugen. "Hast du etwa keinen Hunger?", gab ich zurück und bekam von einer Küchenaushilfe einen Teller mit Nudeln, irgendeiner komischen Soße und eines der Brötchen von Mrs. Fletcher. Frank zuckte zusammen, als eine Schar Schüler fast gegen ihn liefen und antwortete leise: "Doch...schon." Er und die anderen bekamen ebenfalls einen Teller mit Nudeln, einem Brötchen und ... was auch immer das andere war. Josie stand auch hinter der Theke und blinzelte Dorothy kurz fröhlich zu, als sie uns sah. Dann drängten wir uns durch die Schüler zu einem leeren Tisch.

Es schmeckte erstaunlicherweise gar nicht mal so schlecht. Während ich aß hörte ich meinen Freunden zu. Dorothy erzählte George von ihrer Arbeit in der Bibliothek, den nervigen Stunden, die sie hinter sich gebracht hatte und was wir heute Abend noch so vor hatten. Frank versuchte ruhig zu sitzen und zu essen, doch blickte er immer nervös um sich. Vermutlich hielt er Ausschau nach Carter. Alva war gerade damit beschäftigt, Martin einige Nudeln zu klauen, als zwei Mädchen an unserem Tisch vorbei kamen. Ich kannte sie nicht. Sie blickten erst mit vorsichtigen Blicken zu Alva, dann sahen sie Frank an, doch er ignorierte sie. Das eine Mädchen sagte: "Hi. Wir hätten eine Frage." Die andere räusperte sich. Frank schaute hoch und blickte verunsichert in die zwei Gesichter. Die Mädchen schienen zwei Jahre, wenn nicht noch mehr, Jahre jünger zu sein - also in der ersten oder zweiten Jahrgangsstufe. "Ja?", krächzte er unsicher. "Meine Freundin Caroline fragt sich, ob du sie wohl dieses Jahr zum Frühlingsfest begleitest." Das Frühlingsfest... Das hatte ich ja total vergessen. Ein komisches Event, welches jedes Jahr durchgezogen werden muss. Alle Schüler gehen hin und tanzen und sowas.. Eben ein ganz gewöhnlicher Schulball. Ich gehe nicht gern hin. Frank schüttelte verwirrt den Kopf: "Nein danke. Ich kenne dich nicht." Caroline sah ganz und gar nicht traurig darüber aus. "Hast du schon eine Freundin?" Frank blickte zu Boden. "Nein." Carolines Lächeln breitete sich weiter aus. "Dabei könntest du doch jede haben? Warum hast du keine? Stehst du etwa-" "Verschwindet", platzte es aus Martin heraus. Sein Gesicht war zornig. Die Mädchen fuhren kurz zusammen, Caroline flüsterte ein: "Ich habs dir ja gesagt." Dann gingen sie kichernd weg. "Was wollten die denn?", fragte Dorothy skeptisch. "Ich schätze, sie wollten eine Theorie bestätigen", murmelte Frank leise. In seiner Stimme klang Furcht und wir alle schauten den Mädchen nachdenklich hinterher. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter: "Mach dir nichts draus. Das ist doch vollkommen egal. Sie haben keine Beweise." Frank schluckte und nickte lächelnd. Doch ich wusste, dass er nur zu gern geweint hätte. Frank war sehr emotional.
Plötzlich fiel mir etwas ein: "Martin! Du sollst heute gegen acht zum Walnussbaum auf den Schulhof gehen. Isabelle Sterling will mit dir reden." Alle starrten mich an. Alva unterbrach ihre diebischen Aktivitäten und fing an zu grinsen. Martin blickte verdutzt in die Runde. "Isabelle? Sterling?", brachte er verwirrt hervor, "was will die denn von mir?" "Na was wohl?", Alva stopfte sich eine Gabel Nudeln in den Mund: "Sie will dir ein Geständnis machen." "Was?" Auch wenn Martin eigentlich einer der schlausten Menschen war, die ich kannte, im Moment war er ziemlich begriffsstutzig. "Sie liebt dich, Dummkopf!", sagte ich. "Aber... warum? Ich kenne sie kaum und... Sie ist nicht -" "Dein Typ, ja ich weiß. Aber Elizabeth und Oliver haben darauf bestanden, dass du dich mit ihr triffst. Also lass dir was einfallen!" "Möglichst so, dass sie sich nicht gleich umbringen will", fügte Dorothy hinzu. Martin blinzelte kurz und trank einen Schluck Wasser. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Seine Gedanken wurden wahrscheinlich gerade von Panik überflutet. "Du schaffst das schon", krächzte Frank und räusperte sich. George lachte und schlug Martin auf den Rücken: "Ich glaubs nicht! Isabelle steht auf unseren Streber!"

Während Martin noch überlegte, was er Isabelle wohl sagen würde, räumten wir übrigen unsere leeren Tabletts zusammen. Dorothy verließ daraufhin die Gruppe und ging zu Josie, um sie nach der Limonade zu fragen. "Geht schonmal vor", rief sie uns hinterher. Schweigend verließen wir das Hauptgebäude und machten uns auf den Weg zu unseren Schlafräumen. Alva hatte den Arm um Martin gelegt und redete beruhigend auf ihn ein. Frank und Geroge trotteten langsam neben mir her. "Danke, Catherine. Jetzt hast du ihn so sehr abgelenkt, dass wir heute Abend wahrscheinlich nicht mehr zum Lernen kommen", grummelte George. "Entschuldigung. Aber Isabelle wollte es ihm unbedingt sagen", versuchte ich mich zu verteidigen. "Schon gut. Wir können bestimmt noch irgendetwas Kleines wiederholen." Franks Laune hatte sich gebessert. Ich erkannte eine leichte Röte in seinem blassen Gesicht und als ich seinem Blick folgte, wusste ich auch warum. Carter Poe und seine Freunde Chat, Harry und Logan lehnten lässig an der Wand des Gebäudes. "Fragst du ihn, ob er mit dir zum Frühlingsfest geht?" Abrupt blieb Frank stehen. "Bist du verrückt?", schrie er und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Alva und Martin wandten sich um und auch George stand still da. Carter und seine Freunde taten, als sei nichts gewesen. "I-Ich kann ihn doch nicht einfach so.. also. Du weißt schon- was ist, wenn er mich dann-" Frank verstummte und starrte auf den Boden. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und seine goldenen Augen blickten mich verzweifelt an. Eine Träne lief über seine Wange: "Was ist, wenn er mich dann hasst? Oder verrät? Ich kann doch nicht-" Ich umarmte ihn und sagte leise: "Er wird dich nicht hassen. Und es tut mir leid. Ich hatte es vergessen. Wirklich. Es war nur so eine Idee..." George lachte verächtlich: "Catherine, deine Ideen sind heute wirklich nicht die Besten." "Was ist denn hier los?" Dorothy kam mit einer Flasche unter dem Arm aus dem Gebäude. "Ich habe nur etwas Dummes gesagt", gab ich kleinlaut zu. Frank löste sich aus meiner Umarmung "Alles ist gut." Er wischte sich mit seinem Handrücken über das Gesicht. "Vielleicht ist es besser, wenn wir jetzt gehen. Bald kommen die anderen Schüler." Damit wandte er sich Martin und George zu. Martin nickte. George gab Dorothy noch einen Abschiedskuss, dann gingen die drei auf das Jungengebäude zu. "Warum reagiert Frank immer so gereizt", fragte Alva vorsichtig. Dorothy zuckte mit den Schultern. "Kannst du es ihm verübeln? Ständig diese Angst, erwischt zu werden, und ich glaube, er hat mal schlechte Erfahrungen gemacht. Er ist ja auch erst seit dem zweiten Jahrgang hier", stellte ich fest. Eine peinliche Stille entstand. Mehr und mehr Schüler strömten an uns vorbei, in den Abend hinein. "Jemand Lust auf einen Schluck Limonade?", fragte Dorothy und hielt die Flasche in die Höhe. Alva nickte: "Oh ja. Das wäre jetzt das Beste!" Gemeinsam gingen wir über den Campus, zu Dorothys Zimmer.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt