Leere Flure

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Ihr denkt nun vielleicht, dass die Sache hier endet. Dass der Fall und somit mein Bericht abgeschlossen ist.
Ihr könntet euch jetzt entspannt zurücklehnen und das letzte Kapitel lesen.

Aber so ist es nicht.

Eigentlich wurde alles nur noch schlimmer.

Natürlich, den Mord hatten wir gelöst, beziehungsweise hatte Dorothy ihn gelöst. Es sollte in den nächsten Tagen wieder etwas ruhiger und gesitteter im Internat zugehen.
Doch im Schatten der Wände und den leeren Fluren breitete sich eine unmerkliche Kälte aus. Sie wuchs an und wir würden sie erst bemerken, wenn es zu spät war.

Am nächsten Nachmittag setzten wir uns alle gemeinsam um den steinernen Tisch in der hinteren Ecke der Bibliothek zusammen und hörten Dorothys Geschichte.
Es waren nur wir fünf: Frank, Martin, George, Alva und ich.

So hatte es vor einem Monat angefangen, so würde es enden.

"Sophia hat ihn also erstochen, weil Mr. Marsh das mit ihr und Felix herausgefunden hat? Nur wegen dem Foto? Das ist... Bitter." Martin hatte sich auf dem Stuhl zurück gelehnt und putzte seine Brille.
Wir nickten stumm.
"Es ist also vorbei? Du bist keine Verdächtige mehr?" Frank sprach aus, was wir alle dachten. Meine Freundin grinste: "Laut dem, was mir Wilburry heute morgen mitgeteilt hat...Ja!" "Du darfst wieder zum Unterricht kommen und mit uns auf bleiben?" Sie nickte. Ich freute mich genauso sehr wie sie, wenn nicht noch mehr.
"Das ist wunderbar!", sagte ich und drückte leicht ihre Hand. Alva schenkte mir ein warmes Lächeln. Ich fühlte mich einfach großartig.
George meldete sich zu Wort: "Detective Chief Inspector Taylor hat dich sehr gelobt, oder Dorothy?" Sie nickte und strahlte das größte Selbstbewusstsein aus, das ich je erlebt hatte. "Wirklich, oh das ist ja toll!", meinte Martin. Seine Augen glänzten voller Begeisterung. Er sah aus, wie ein Hund, der sich auf sein Lieblingsessen freut. Ich konnte nicht anders, als laut los zu lachen. George musste mir einen kleinen Stoß verpassen, damit ich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf uns zog. Man konnte nie sicher genug vor Miss Gildas strafenden Blicken sein.
"Entschuldigung", flüsterte ich. Die anderen kicherten leise. "Jedenfalls", fuhr George nach einiger Zeit fort, "Dein Einsatz war wirklich klasse, Dot. Aber... Bitte mach sowas nicht wieder. Ich hatte wirklich Angst um dich." Frank sah auf und nickte. Martin verdrehte die Augen: "George ist uns gestern Abend sehr auf die Nerven gegangen!" "Hey...!" "Nein. Martin hat schon recht. Du hast uns die ganze Zeit wach gehalten und über Dorothy geschwärmt und dir Sorgen gemacht: 'Hoffentlich geht es ihr gut, sie verkraftet doch keinen Schock', 'Was ist, wenn sie vor Schreck krank wird?', 'Ich darf mir nicht vorstellen, was alles hätte passieren können. Sie hätte tot sein können.' Oh man, George. Schau sie dir doch an. Dorothy ist schlau und hat mehr Selbstbewusstsein als wir alle drei zusammen. Sei mal stolz auf deine Freundin!" Frank verschränkte die Arme. George murmelte nur ein leises: "Ich bin doch stolz auf sie!" Und Dorothy selbst, sah aus, wie eine Tomate.
Avla wechselte das Thema: "Was ist eigentlich mit Carter, Frank?" In ihrer Stimme klang dieser gewisse Unterton. Frank hatte keine Chance, ihr zu entkommen.
Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Tischplatte. Dennoch sah er entspannter aus, als noch vor ein paar Tagen. "Er ist bei seinen Freunden. Ihm geht es gut. Wir treffen uns morgen Abend wieder." "Großartig. Schaut, ihr macht Fortschritte." Sie drehte sich zu mir und küsste mich lange. Eine Explosion an Schmetterlingen durchzog meinen Bauch. "So wie ich und Cathy." Ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Alva war wundervoll.
"Wolltest du nicht noch einmal in den Geheimraum gehen?", versuchte Martin das Thema zu wechseln. Die Miene meiner Freundin wendete sich schlagartig um hundertachzig Grad. "Ja. Morgen. Heute möchte ich meine freie Zeit nutzen. Im Garten blühen schon einige Maiglöckchen. Die würde ich gerne zeichnen." Ich nickte: "Ich möchte heute auch in den Musikraum gehen und Üben. Dorothy, willst du mitkommen?" Das Mädchen grinste: "Aber gerne doch!" "Okay. Jungs, wollen wir in die Stadt fahren? Ich brauch noch ein neues Heft", fragte Martin. George zuckte mit den Schultern: "Ich komme gerne mit, da kann ich mir gleich auch ein neues Lineal kaufen." "Ich denke, ich bleibe hier und lese", meinte Frank. Die anderen Jungs schauten enttäuscht. "Ach komm schon, Frank. Ein bisschen frische Luft, wird dir auch nicht schaden." "Ja, komm schon, Frank. Wir haben ewig nichts mehr zu dritt gemacht!" Frank verdrehte die Augen und gab sich geschlagen: "Okay, okay. Aber dann müssen wir jetzt gleich los, sonst wird es mir zu spät." "Verstanden", lachte Martin und stand auf. Auch wir erhoben uns und nach einigen Abschiedsumarmungen gingen wir alle unserer Wege.

Es war schön, etwas mit Dorothy zu machen und auch Gwenevire und Meredith zu sehen. Nach dem Fest war letztere mit Connor zusammen gekommen. Sie waren wirklich niedlich zusammen und Connor saß auch heute bei uns und hörte zu.
Wir gingen mehrmals die Noten durch. Irgendwann, gegen Ende des Schuljahres, würden wir ein ein kleines Konzert geben. Ich hoffte sehr, dass meine Eltern kommen würden. Eigentlich sprach nichts dagegen. Die Zugfahrt dauerte ungefähr einen Tag und im Dorf gab es einen guten Gasthof. Ich würde Mutter morgen schreiben und sie fragen.

"Bravo!" Es waren einige Stunden vergangen, die Sonne stand schon nahe am Horizont. Bald würde es zum Abendessen läuten. Mrs. Miller betrat den Raum. Sie war eine Frau mittleren Alters, ihr Haar war lang, hochgesteckt und von einem hellen braun, welches schon in ein ebenso helles grau überging. Wir mochten sie. Sie war lustig, nett und förderte uns. Ihre blaugrauen Augen funkelten überschwänglich, während sie uns Beifall klatschte: "Das hört sich doch schon einmal sehr gut an! Ich bin stolz auf euch alle. Schön, dass ihr nach den letzten Wochen immer noch bei Laune seid und mitmacht." Wir nickten stumm, aber lächelten zurück. Der Blick meiner Lehrerin fiel auf Connor: "Oh! Ein Neuzugang? Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Instrument spielen, Omeir?" Connor kratzte sich verlegen am Kopf. Er war ein blonder Durchschnittstyp. Etwas zu langweilig, für meinen Geschmack. Ich fand, dass er dennoch gut zu Meredith passte. "Eigentlich, Mrs. Miller, spiele ich auch kein Instrument", meinte er verlegen, "Ich bin nur wegen Merry hier." Meredith stand neben ihm. Langsam suchte Connor blind nach ihrer Hand, fand sie und hielt sie ganz fest. "Aber, wenn Sie meinen, dass ich bei den Proben störe, dann kann ich auch gehen", setzte er hinzu. Mrs. Miller lachte nur: "Nein. Du darfst natürlich gerne bleiben. Ein Ohrenpaar mehr bedeutet, schneller Fehler erkennen und somit effizienteres Arbeiten. Ich denke-"

Die Glocke zum Abendessen unterbrach sie. Wir legten beiseite, was wir vielleicht noch in den Händen gehalten hatten und machten uns gemeinsam auf den Weg in den Speisesaal, welcher uns in eine Menge fröhlicher Kinder warf und uns alle willkürlich trennte.

Ich traf meine Freunde erst an einem Tisch wieder. Mit meinem Tablett ließ ich mich neben Martin fallen: "Wie war's in der Stadt?" "Ganz gut. Nichts besonderes. Wie war's bei euch?" Ich nickte: "Ebenso." "Habt ihr viel geübt? Ich bin richtig gespannt auf euer Konzert", sagte Alva. "Das wird bestimmt toll. Ich freue mich schon", meinte Dorothy. Schweigend aßen wir.

Bis George die Stille brach: "Alva? Wie hieß deine Mutter?" Erstaunt blickten wir ihn an. Alva legte bedacht ruhig die Gabel weg. Ich wusste, dass die Frage sie verwirrt hatte. "Fiona. Wieso?" Aber George antwortete nicht, sondern nickte nur und aß weiter. Meine Freundin und ich wechselten einen verständnislosen Blick. Georges Frage war so unerwartet und ohne Grund gekommen, dass sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und noch mehr: Warum hatte George das gefragt? Hatte er eine Idee? Eine Vermutung, die er nicht teilen wollte?

Ansonsten verlief das Abendessen wie immer. Wir lachten viel. Und das war gut so.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt