Das Wiedersehen

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Ich fand Alva in ihrem Zimmer. Man hielt mich nicht auf. Niemand war da.
Nur Mrs. Claude - eine alte Französischlehrerin - schlurfte durch die Gänge. "Wohin des Wegs?", fragte sie mit brüchiger Stimme. "Nur mal eben in mein Zimmer. Ich habe eine Hausarbeit vergessen", log ich. Sie schüttelte den Kopf, ging an mir vorbei und murmelte etwas wie "Diese Jugend heutzutage" und etwas auf Französisch, das ich nicht verstand.
Als sie außer Sichtweite war, begab ich mich so schnell und so leise wie möglich durch den Verbindungsgang in den Lehrertrakt.
So war es einfacher, als direkt durchs Hauptgebäude an mehreren Lehrern vorbei zu schleichen. Natürlich war es nicht verboten, Alva zu besuchen, aber 1. wollte ich nicht einem Lehrer in die Arme laufen und Fragen beantworten müssen und 2. hätte ich jetzt eigentlich Unterricht gehabt. Ich klopfte nicht an, sondern stürmte in ihr Zimmer und schloss schnell die Tür hinter mir.

Das dünne Mädchen saß auf dem Bett, lehnte sich an die Wand und blätterte in einem Buch. Ihre hellen, blonden Strähnen klebten ihr im Gesicht und ihre sonst so wunderschönen Augen waren glasig, kalt und rot. Sie hatte geweint. Sie schaute erschrocken hoch und ihre Augen weiteten sich: "Cat. Was ma-" Ich ließ sie nicht ausreden, sondern rannte zu ihr und fiel ihr um den Hals. Ich hielt sie so fest, als ob sie sich jederzeit in Luft auflösen könnte. Ich weinte und sah bestimmt sehr seltsam dabei aus, aber das war egal. "Dir geht es gut", flüsterte ich. Ich löste mich von ihr und strich ihr einige Haarsträhnen von der Wange. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich hoffte, dass sie es nicht hörte. Alva lachte trocken: "Ja. Für eine potentielle Mörderin geht es mir wirklich ziemlich gut." "Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich dachte sie würden dich vielleicht... dich vielleicht-" "Wegschicken? Einsperren? Dazu haben sie keine Beweise. Ich habe keinen Mord begangen."  Ihre Stimme wurde kälter und in mir zog sich plötzlich alles zusammen. "Aber wahrscheinlich denken es alle. Ich hatte schließlich das Messer in der Hand. Die gruselige Alva hat jemanden erstochen. Wie typisch. Ihr denkt es doch auch oder?" War das Trauer in ihrer Stimme? Ich schüttelte schnell den Kopf und ergriff ihre Hand: "Ich habe es keine Sekunde lang geglaubt und ich wünschte, ich hätte dir gestern Nacht helfen können." Ich lehnte mich neben ihr an die Wand. Sie war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. "Martin und die anderen haben auch versprochen zu helfen. Wir wollen beweisen, dass du es nicht warst." Alva starrte ins Leere. Ihr Mund war leicht geöffnet und die Lippen strahlten ein kräftiges Blutrot. Ich verfluchte meine Gedanken. Warum nicht jetzt? Die Stimme in meinem Kopf war präsenter als sonst, aber ich hielt mich zurück. Noch nicht. Noch war kein guter Zeitpunkt.
Außerdem hätte ich nie den ersten Schritt gewagt.
"Ich hätte nie gedacht, dass mir jemand helfen würde. Aber danke." Sie lächelte warm. "Natürlich. Wir sind doch deine Freunde", gab ich zurück. "Was genau ist eigentlich passiert?"

Alvas Lächeln verschwand und für ein paar Minuten blieb es still.
"Nachdem du gegangen warst, habe ich noch mit Dorothy geredet. Das waren aber vielleicht nur noch 5 Minuten..." Ich erinnerte mich daran, sie kurz vor dem Betreten meines Zimmers gesehen zu haben.
"Ich wollte zu meinem Zimmer gehen, da bemerkte ich, dass Mr. Marshs Raum noch hell erleuchtet war. Du weißt doch, dass ich einen Aufsatz schreiben muss und als ich nun da stand, dachte ich, ich könnte ihm vielleicht ein paar Ideen entlocken. Er hätte so spät nachts nichts dagegen gehabt und auch keine unnötigen Fragen gestellt, warum ich noch auf war und so weiter." Sie stoppte und ihre Augen wurden wieder glasig. Ich legte einen Arm um sie. "Er war schon tot?", flüsterte ich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie nickte: "Erst wollte ich direkt nach Hilfe rufen, aber etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit gepackt. Direkt neben Mr. Marshs... Körper... lag eine kleine runde Box. Sie schien vom Kaminsims gefallen zu sein. Ich habe sie aufgehoben und mir dann...Dann habe ich mir die Verletzung näher angeschaut. Ich habe das Messer herausgezogen und dann ging alles ganz schnell. Plötzlich kam Ms. Brooklyn in das Zimmer und hat direkt angefangen zu schreien. Und dann kamen auch schon die ersten Schüler und ich konnte nicht mehr denken und dann kamst du und ich war... Ich fühlte mich so hilflos." Ich schwieg. Sie auch. Aber ich glaube, im Inneren waren wir beide ziemlich aufgewühlt. "Hast du das auch so Mr. Wilburry und der Polizei erzählt?", wollte ich wissen. "Ja. Sonst wäre die Strafe nicht so milde. Aber ein Detail habe ich verschwiegen." Plötzlich wurde sie ganz anders. War sie gerade noch betrübt und traurig, so funkelte nun in ihren Augen ein belebendes Feuer und ihre Stimme wurde kräftig und klar. Sie stand auf und kniete sich vor das Bett. "Was machst du da?" "Pscht. Ich suche etwas. Aha!" Triumphierend zog sie einen Karton unter ihrem Bett hervor.

Als Alva den Deckel abnahm, staunte ich nicht schlecht. Neben mehreren hübschen Steinen, drei Ahornblättern und einem Notizbuch, lag ein kleines Kästchen. So groß wie eine Hand war es und halb rund.  Es war dunkelblau, fast schwarz, lackiert und die goldenen Fassung mit Schnörkeln und Perlen verziert. Auf dem Deckel waren zwei Buchstaben in die Goldplatte eingraviert: F. H.
Wofür die wohl standen?
Man erkannte an einem kleinen Aufziehschlüssel an der Rückseite der Box, dass es sich um eine Spieluhr handelte. "Du hast sie doch nicht einfach so -?" "-Doch. Sie könnte uns auf eine Spur bringen!", fiel mir Alva ins Wort. "Auf eine Spur?" Ich blickte sie skeptisch und verwundert an. "Ja. Hör zu", sagte sie nun etwas ruhiger, "wir müssen diesen Mord aufklären. Sowas wollte ich immer schon einmal machen und jetzt haben wir die beste Möglichkeit."
Ich starrte mir offenen Mund in ihr Gesicht: "Du willst was? Nein. Das ist viel zu gefährlich! Überlass das der Polizei. Das ist deren Aufgabe." "Aber Catherine, überleg doch mal..." Sie setzte sich mir genau gegenüber und schaute mir intensiv in die Augen. Was machte sie nur mit mir... Wusste sie eigentlich, dass es mir jetzt noch schwerer fallen würde, ihr das auszureden? Wahrscheinlich wusste sie es genau und machte es absichtlich. Um noch mehr Wirkung zu erzielen, nahm sie meine Hand: "Überleg doch mal. Du könntest Detektiv sein. Geheimnisse erforschen, kombinieren, das hast du dir doch schon immer gewünscht, oder? Dann wären alle Probleme gelöst und meine Unschuld bewiesen." "Pah. Unschuld. Dieses Mädchen ist alles, aber nicht unschuldig. Sieh doch, wie sie dich manipuliert", flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Ich brachte sie schnell zum Schweigen.
Wie hätte ich diesem wundervollen Mädchen etwas ausschlagen können? Sie war so hübsch und ihre Ideen und Gedanken so mitreißend und sie hatte ja schon irgendwie Recht... "Okay", gab ich leise nach. "Was hast du gesagt?" Alva hatte es genau gehört, das sah man an ihrem Lächeln. Trotzdem wiederholte ich mich: "Okay. Wir machen das. Wir finden den Mörder und beweisen deine Unschuld!"
"Danke, danke, danke", rief sie und umarmte mich. Dann ließ sie mich los. Ihr schien etwas eingefallen zu sein. Mit einem schelmischen Grinsen fragte sie:

"Sag mal. Hast du nicht eigentlich Unterricht?"

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt