Die Briefe der Toten

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Rotes Neonlicht. Erschreckend grelles, rotes Neonlicht umgab uns.
Wir standen im Geheimraum: Alva, Frank, und ich.
Zusammen drängten wir uns um den Metalltisch und schauten auf das Chaos an Papieren und Zetteln. Ich konnte sie nicht lesen.

Aber meine Freundin konnte.
Und wir hörten zu.

"Das ist Dänisch", sagte sie nach ein paar Sekunden, während sie angestrengt die Zettel untersuchte. Ich sorgte mich um sie. Vielleicht war das eine dumme Idee. Aber vielleicht würde es uns weiterbringen. Noch weinte sie nicht und auch ihre Stimme war neugierig und beinahe froh. Trotzdem ließ ich ihre Hand nicht los. "Was sind das für Zettel?", fragte Frank. "Hauptsächlich Briefe, wie mir scheint", aber auch Notizen. Sowas wie: "'M.D. ausgeschlossen.' oder 'Verdacht nicht bestätigt.' Hm..." Sie zog ein älter aussehendes Dokument aus dem Stapel und begann zu lesen.
"Oh."

Plötzlich ließ sie meine Hand los und hielt sich mit beiden Händen das Papier vor das Gesicht. Sie begann zu zittern. Schlagartig hatte sich ihre Laune geändert und meine Gedanken spielten verrückt. Frank legte vorsichtig seine Hand auf meine Schulter, während wir Alvas verwirrten Blick folgten, der das Papier las. Sie versuchte ruhig zu atmen, aber es gelang ihr nicht wirklich.
"Das... Das ist ein Brief. Von... Meiner Mutter. Wie...?"
Ihre Lippen murmelten ein paar Wörter. Vermutlich Dänisch. Wir gaben ihr Zeit, ich stellte es mir schwer vor, das alles zu verarbeiten. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber was Alva empfinden musste... Daran wollte ich gar nicht denken.
"Was schreibt sie?", fragte ich nach einer Weile so sanft und ruhig wie möglich. Alva blickte kurz auf. Ihre Augen waren rot, aber sie weinte nicht. Ein gutes Zeichen, auch wenn ich noch beunruhigt war. "Ich... Warte." Sie legte den Zettel zurück auf den Tisch und schaltete eine kleine Lampe ein, die weißes Licht auf das Papier projizierte. In der Ecke war ein kleines Datum. 13. April 1932. Die Schrift war über die Jahre etwas ausgeblichen.

"Liebster Bastian,

Ich finde es schrecklich, so lange von dir getrennt zu sein und dich nicht sehen zu können. Ich hoffe, dass es dir gut geht und du uns vielleicht nächstes Jahr besuchen kommst.
Du weißt ja... Ich habe mich letztes Jahr mit Theodore Burns verlobt, ein angesehener, junger Kaufmann aus Liverpool. Du hast ihn vor zwei Jahren kennengelernt, damals, bei unserem letzten Treffen, als ich dir zum Abschied den Blumenstrauß geschenkt habe. Ich hoffe, ich habe mit meiner netten Geste nicht deine Gefühle verletzt? Versteh mich nicht falsch, Bastian, ich liebe dich wie man einen Freund lieben kann, aber zu höheren Gefilden wird sich mein Gemüt nicht mehr aufmachen.
Ich wünsche mir trotzdem, mit aller größter Hoffnung, dass du zu unserer Hochzeit am 26. September erscheinst und uns mit deiner Anwesenheit das größte Geschenk machst.

Bitte schreibe mir baldmöglichst zurück, ich möchte alles über dein Leben erfahren,

Deine allerliebste Fiona

P.S.: In dem Päckchen befindet sich ein Geschenk von mir. Ich möchte, dass du sie als Andenken an mich und unsere Vergangenheit behälst!"

"So wie sich das anhört, waren sie und Mr. Marsh Freunde... Und vielleicht noch mehr, bis sie deinen Vater kennengelernt hat", sagte Frank. Ich nickte: "Find ich auch. Und... Meint sie mit dem Geschenk die Spieluhr?" "Möglich", murmelte Alva und strich den Zettel mit der Handfläche glatt. "Ich wusste nichts davon. Das hat sie mir nie erzählt. Ich habe Mr. Marsh auch nie gesehen..." "Es muss schwer für ihn gewesen sein, als deine Mutter sich für deinen Vater entschieden hat", entgegnete Frank, "also ich kann da verstehen, dass er nicht oft zu Besuch kam." "Aber er hat es anscheinend nicht übers Herz gebracht, sie ganz zu verlassen.
Wie war der Mädchenname deiner Mutter? Er muss ja mit H beginnen." Alvas Gesichtsausdruck war schwer zu deuten und das rote Licht ließ ihre hellen Augen grau leuchten, ob vor Trauer oder Neugierde, sicher war ich mir nicht. "Hope", sagte sie leise und machte sich dann daran, weitere Dokumente durchzublättern.
"Hier ist noch einer. Schaut. 1942... In dem Jahr starb meine Mutter. Er ist ganz schmutzig. Und... Von meinem Vater." "Kannst du ihn lesen?" Gespannt blickten wir ihr über die Schulter. Alva nickte und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Das Übersetzen kostete Konzentration.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt