Nachdem ich meine Strafarbeiten erledigt hatte, traf ich mich mit Dorothy in Alvas Zimmer. Wir erklärten ihr alles und es schien sie aufzumuntern. Ich freute mich riesig, als sie lächelte. Ich spürte wieder dieses Kribbeln, wenn sie mich ansah. Ich war noch nie richtig verliebt gewesen. Natürlich gab es schon Jungs und - zu meinem Erschrecken - selbst Mädchen, die ich richtig süß fand, aber wirklich verliebt... Ich konnte mich nicht dran erinnern. Hoffentlich fand ich bald Zeit nochmal genau darüber nachzudenken.
"Wo fangen wir an, nach Hinweisen zu suchen?", fragte Dorothy und riss mich aus den Gedanken. "Ehm...", stammelte ich. Ich hatte keine Ahnung. Wir hatten ja so gut wie keine Anhaltspunkte. Langsam ließ ich meinen Blick durch das Zimmer wandern, da fiel mir etwas ein: "Alva. Kann ich nochmal die Spieluhr sehen?" Alva nickte und schon krabbelte sie auf dem Boden herum. Dorothy sah mich fragend an: "Spieluhr?" "Oh stimmt. Das habe ich gar nicht erzählt. Alva hat gestern eine Spieluhr im Zimmer von Mr. Marsh auf dem Boden gefunden. Sie hat sie mitgenommen." Dorothys Mund formte ein leises "Warum?", sodass Alva es nicht mitbekam. Doch ich konnte nur mit den Schultern zucken, denn schon saß das Mädchen wieder neben mir. In der Hand die kleine Box. "Die ist aber hübsch", hauchte Dorothy und fuhr mit den Fingern die Perlen-Verzierungen nach. "Ja, oder? Aber ich hab sie noch nicht auf gemacht. Ich wollte das mit euch gemeinsam machen. Auch mit den Jungs. Können wir uns in der Bibliothek in eine Ecke zurückziehen?"
"Darfst du denn das Zimmer verlassen?", wollte ich wissen. Dorothy lachte: "Hast du schon wieder alles vergessen, Cathy? Sie darf gehen wohin sie will. Nur nicht alleine." "Oh. Achso." Ich fühlte mich irgendwie schlecht, dass ich es vergessen hatte, aber Alva legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Ich schlage vor, Cathy und ich gehen schonmal in die Bibliothek, Dott sucht die Jungs. Es gibt ja nicht viele Orte, wo sie sein können." Sie sprang vom Bett und ehe ich irgendwas sagen konnte, wurde ich an der Hand gepackt und aus dem Zimmer gezogen. Dorothy blieb einerseits lachend, andererseits verwundert zurück.Während wir gemeinsam durch die Gänge liefen, hoffte ich, dass sie mein klopfendes Herz nicht bemerkte. Alva lächelte. Obwohl sie ein bisschen kleiner als ich war, überragte sie mich doch auf so vielen Ebenen. Ihren Kopf hoch erhoben schritt sie majestätisch neben mir und beachtete die Blicke der nebenstehenden Schüler nicht. Überhaupt ging sie mit der gesamten Situation so entspannt um. Ich bin mir nicht sicher, ob ich genauso gehandelt hätte.
Ich trug die Spieluhr vorsichtig vor mir her und versuchte sie irgendwie zu verbergen, was mir aber leider wenig gelang. Es musste schon ziemlich merkwürdig ausgesehen haben. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen wir endlich vor der großen, schweren Tür zur Bibliothek. Sie war aus schwerem, dunklem Eichenholz gefertigt, in das ein Künstler mehrere Pflanzenornamente eingeritzt hatte. Sie war ziemlich groß, wahrscheinlich doppelt so groß wie ich. Wie auch sonst, war sie nur leicht angelehnt und ließ sich gut auf drücken. Gemeinsam betraten wir die große Halle, die vollgestopft mit Bücherregalen war.
Die Bibliothek war, neben dem schattigen Platz unter dem Walnussbaum, dem Musiksaal und einigen abseits gelegenen Räumen, einer meiner Lieblingsorte zum Nachdenken.
Es herrschte eine ruhige, gemütliche Atmosphäre und man bekam Lust, sich auf die Geschichten in den Regalen zu stürzen. Hier gab es alles: Romane, Kriminalgeschichten, alte Dramen und Epen, Gedichtbände, Sachbücher, Fantasiegeschichten und noch vieles mehr. Geleitet wurde das Ganze von Miss Gilda, einer kleinen, älteren Frau, die Ähnlichkeiten mit einem Maulwurf aufwies. Sie hatte schmale, dunkle Augen, die sie hinter einer zierlichen Silberbrille versteckte, einen gekrümmten Gang und große, knochige Hände. Sie liebte das Halbdunkel und schlich gerne zwischen den Gängen herum. Man konnte sie alles fragen und ich glaube, sie kannte jedes Buch schon in- und auswendig. So gruselig, wie sie manchmal sein konnte, war sie nämlich gar nicht. Miss Gilda war immer höflich und nett und liebte Kekse und Scherze. Reden war erlaubt, wenn es nicht zu laut wurde. Sonst wurde man von ihr auch eiskalt vor die Tür gesetzt und durfte die Bibliothek zwei ganze Wochen nicht betreten. Ich wollte es mir mit ihr möglichst nicht verscherzen, da mir die Bände über französische Literatur so manches Mal das Leben gerettet hatten.
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Der Tanzbär // Abgeschlossen
Adventure"'Hast du Angst?', flüsterte sie. 'Du weißt, was dort ist und du weißt, was passieren könnte.' [...] Aber ich schüttelte den Kopf und gemeinsam drehten wir den Schlüssel im Schloss herum und lauschten dem leisen Klicken des Mechanismus, als die Tür...