Des einen Leid

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Mein Kopf schmerzte und es war kalt.
Ich wollte mir an die Stirn greifen, doch merkte, dass mir das nicht möglich war. Verwirrt blickte ich an meinem Körper hinunter. Ein Schauer jagte mir über den Rücken und leichte Panik stieg in mir auf. Ich konnte mich nicht bewegen, da ich an einen Stuhl gefesselt war.
Und die Seile waren eng. Erst jetzt breitete sich der Schmerz, den ich in meinen Hand- und Fußgelenken spürte, aus.
Noch immer leicht benommen starrte ich durch den Raum, in dem ich mich befand.

Das Fenster war groß, ich konnte den Hof des Internats sehen. Noch war es dunkel draußen, aber grau-weißes Licht zeugte von einem, sich ankündigendem, Sonnenaufgang. Nebelschwaden sammelten sich am Horizont und würden das Grundstück bald in kalte, nasse Wolken hüllen. Mir wurde nun bewusst, dass ich mindestens zwei oder drei Stunden bewusstlos gewesen war. Die Panik breitete sich weiter aus und ich wollte schreien, blieb aber stumm. Stattdessen schaute ich mich weiter um. Mein Stuhl war zur Tür gerichtet, was hinter mir lag konnte ich nicht erkennen, da ich dank der Fesseln nur ein eingeschränktes Sichtfeld hatte. Jedoch musste, laut dem, was ich aus dem Augenwinkel erahnen konnte, ein Bett hinter mir stehen. Rechts von der Tür, gegenüber des Fensters, stand eine breite Eichenkommode, die den Raum enger und bedrückender wirken ließ. Sie war sauber und ordentlich, wie auch der Rest des Raumes, den ich sehen konnte.
Neben der Tür hing ein Kalender. Zahlen ohne irgendwelche Bilder oder Beschriftungen. Er hing einfach da. Ganz stumpf und gerade. Die Tapete war dunkelgrün. Moment. Dunkelgrün? Woher kam mir diese Farbe nur bekannt vor? "Carter", rief ich erschrocken und die Erinnerungen kamen wieder. Wie hatte ich das vergessen können? Hatte mich etwa der Lehrer, dem das Büro gehörte gekidnappt? Aber wieso? Was hatte ich denn getan? Ich fragte mich, was wohl mit Carter passiert worden war, als mich hinter meinem Rücken ein schmerzvolles, leises Stöhnen aufschrecken ließ. "Ah. Scheiße. Catherine? Bist du das?" Aus Reflex wollte ich mich umdrehen, aber das ging ja leider nicht. Doch ich brauchte nicht sein Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass es Carter war. "Hallo. Auch mal wach? Bitte schrei nicht so", sagte ich leise.
Ich wollte nicht riskieren, dass, wer auch immer uns das angetan hatte, uns hörte. Nochmal bewusstlos geschlagen zu werden... Darauf konnte ich gerne verzichten. "Warum sind wir gefesselt?", kam es von Carter zurück. Anscheinend ging es ihm besser, als mir. "Das ist eine wirklich gute Frage. Aber du kannst mir bestimmt sagen, wer das war, oder?" Kurze Pause.

Dann: "Warum sollte Miss Brooklyn uns gefesselt haben?" "Das Zimmer gehört Miss Brooklyn?"
"Ich denke schon. Ich war Abends noch bei ihr, sie wollte mit mir über irgendetwas reden...Aber jetzt, bin ich mir da nicht mehr so sicher."

Aber ich war mir sicher.
Und es ergab alles Sinn. Miss Brooklyn war auch neu, nicht viel länger an unserer Schule als Mr. Marsh.
Wieder einmal fragte ich mich, wie wir soetwas offensichtliches übersehen hatten.
Ich wollte fluchen. Und schreien. Und weinen.
Aber ich musste die Ruhe bewahren und es Carter erklären. Er war ja gestern nicht dabei gewesen. "Hör zu. Erinnerst du dich noch an dem Abend unterm Baum, als du deine These aufgestellt hast, dass vielleicht Henrietta Dover etwas mit der ganze Sache zu tun haben könnte?" Er antwortete nicht, also redete ich einfach weiter: "Du hattest recht. Zwar hat sie nicht Mr. Marsh getötet, aber sie ist auf Rache aus. Und allem Anschein nach, bist du Teil ihres Plans."
Stille.
"Carter, bist du noch da?"

Ein leises Räuspern verschaffte mir Gewissheit: "Ehm... Ja. Entschuldigung. Du meinst also, Miss Brooklyn ist Henrietta und jetzt durchgedreht und... Sie hat mich hergeholt um mich zu kidnappen? Aber was machst du dann hier?" "Ich war auf dem Flur, weil... Ich weiß nicht mehr warum. Aber ich habe dich gesehen und war neugierig. Also bin ich dir gefolgt und wurde erstmal bewusstlos geschlagen."
"Davon habe ich gar nichts mitbekommen." "Vielleicht hat sie dir Schlaf-Tropfen gegeben..." "Das kann sein."

Wir schwiegen wieder eine Weile. Der Nebel war jetzt dabei, den Campus einzuhüllen und eine Krähe krächzte irgendwo. Bald würden die anderen Schüler und Lehrer wach werden, dann könnten wir vielleicht Alarm schlagen.

"Catherine? Was passiert nun mit uns?" Carter klang nicht ängstlich. Seine Stimme war fest und klar. Ich wünschte ich hätte ihm meine Frage beantworten können. "Ich weiß es nicht."

Während Carter und ich also auf weitere Geschehnisse warteten, war Alva in heller Aufregung. Erst hatte sie sich nichts dabei gedacht, als sie gemerkt hatte, dass ich verschwunden war, aber nachdem eine Stunde herum war, stand sie auf um nach mir zu suchen.
Später erzählte sie mir, dass sie als erstes zu meinem eigentlichen Zimmer gegangen war. Aber natürlich fand sie dort nur Meredith und Gwen vor, die schlafend in den Betten lagen. Als nächstes versuchte sie es bei Dorothy, aber auch hier schliefen alle. Also machte sie sich besorgt zurück auf den Weg in ihr Zimmer. Es waren noch drei Stunden, bis zum Frühstück. Diese drei Stunden verbrachte Alva damit, ein Buch zu lesen. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber ihre Gedanken wanderten immer zu mir und dann übernahm die Sorge die Überhand, sodass sie anfing zu weinen. Mehrmals starrte sie auf die Uhr und zur Zimmertür, hoffend, dass ich doch noch kommen würde.

Aber natürlich kam ich nicht.

Kurz bevor die Schulglocke zum Frühstück klingelte, öffnete sich die Zimmertür und Miss Brooklyn betrat den Raum. Ich hatte sie immer für eine missmutige Lehrerin gehalten. Sie war groß, dünn, aber kräftig, hatte braunes, langes und lockiges Haar und ebenso braune Augen. Ihre gerade Nase wirkte streng und ihr Mund war spitz und dünn. Trotz ihres jungen Alters hatte sie sehr dunkle Schatten unter den Augen und ein paar Falten im Gesicht. Mit ihren kleinen Augen musterte sie mich und Carter. So viel Hass hatte ich selbst in Abigails oder Averys Blick noch nicht gesehen. "Wie ich sehe seid ihr wach, meine Vögelchen. Schön. Dann kann es gleich losgehen." Ich zitterte. Ihre Stimme war grausam hell und fröhlich. "Was machen Sie mit uns?", fragte Carter. Wieder staunte ich über seine Selbstbeherrschung und den Mut. "Seid leise", krächzte Miss Brooklyn und holte zwei Tücher aus einer Schublade. Damit ging sie an mir vorbei. "Sie wissen schon, dass sie das ins Ge-" Carters Worte verwandelten sich in einfache, dumpfe Töne. Miss Brooklyn hatte ihm ein Tuch in den Mund gestopft, was ihn am Sprechen hinderte. "So ists gut, kleines Vögelchen. Schohne deine hübsche Stimme", säuselte sie. Plötzlich spürte ich eine knochige Hand auf meinem Kopf. Lange, spitze Fingernägel fuhren über meine Haare, sodass ich zusammen zuckte. "Nanana... Du warst nicht geplant, kleines Vögelchen. Aber besser als der da. Zwei sind immer besser als Einer. Nicht wahr?" Sie ging um meinen Stuhl herum und lächelte mich an. Ich bekam Angst, Tränen stiegen in meine Augen. Dann wurde mein Kinn gepackt, Fingernägel gruben sich in meine Haut und ein Tuch hinderte mich am schreien. Zufrieden wischte Miss Brooklyn eine Träne von meiner Wange und ging wieder zur Tür. "Fliegt nicht weg, kleine Vögelchen", sagte sie und ging.
Ich saß immer noch zitternd da, eine weitere Träne lief meine Wange hinunter. Henrietta war wirklich komplett durchgedreht und gefährlich. Was hatte sie nur mit uns vor? Ich versuchte mich zu beruhigen. Meinen Plan, um Hilfe zu schreien, konnte ich vergessen. Ich hoffte darauf, dass Alva mich und Carter retten würde.

Alva war auf dem Weg zum Frühstück, als sie Dorothy auf dem Campus traf. Normalerweise wäre sie ihr schweigend gefolgt, da sie sich nicht traute, in der Öffentlichkeit zu rufen, aber dieses Mal war es ihr egal. Sie rannte zu ihr, packte ihren Arm, sodass das Mädchen herumfuhr. "Alva, was...?" Ein Blick Alvas ihre besorgten Augen ließ sie verstummen. "Weißt du wo Catherine ist?" Langsam schüttelte Dorothy den Kopf: "War sie nicht bei dir?" Alva ließ den Arm des Mädchens los und starrte kraftlos auf den Boden. "Sie ist verschwunden. Seit mehreren Stunden schon." "Das ist nicht gut. In ihrem Zimmer ist sie nicht?" Alva verneinte leise. "Mh... Erst Carter, jetzt Catherine. Das sieht gar nicht gut aus", flüsterte Dorothy, mehr zu sich selbst, als zu Alva.
Eine schrille Mädchenstimme ließ plötzlich beide zusammenzucken:

"Ah. Da ist ja der Freak. Burns! Miss Brooklyn möchte dich sehen. Auf der Stelle!" Abigail Cook ging an ihnen vorbei, den Kopf hochnäsig erhoben. An ihrer Seite zwei andere Mädchen. "Danke Abigail!", rief Dorothy ihnen nach und sah dann Alva an.
"Was meinst du was Miss Brooklyn von dir will?" Alva schaute verdutzt Abigail hinterher und antwortete: "Ich weiß es nicht. Aber... Es ist seltsam. Dotty... Irgendwie habe ich Angst." "Vielleicht ist Miss Brooklyn... Du weißt schon. Da sie ja noch so neu an der Schule ist, und in der Nacht als Mr. Marsh ermordet wurde, war sie ja auch da. Also vielleicht..." "Ja. vielleicht ist sie Henrietta."
Dorothy blickte auf die Schüler, welche allesamt dem Hauptgebäude hin strebten. Es wäre der perfekte Zeitpunkt für ein Verbrechen, niemand würde etwas bemerken. "Ich gehe zu den Jungs, dann rufen wir die Polizei, okay? Du gehst zu Miss Brooklyn und hälst sie hin. Denn wenn du nicht kommst, merkt sie vielleicht etwas und haut ab", sagte Dorothy bestimmt. Alva nickte. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich mal wieder um 180 Grad gewandelt. Entschlossenheit funkelte in ihren Augen. "In Ordnung. Bitte, beeil dich, ja?" "Versprochen", sagte Dorothy und rannte auf das Hauptgebäude zu.
Alva wandte sich um und machte sich auf zu Miss Brooklyns Zimmer.

Der Tanzbär // AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt