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Gern hätte ich diese Momente mit einer Kerze in meinem Zimmer mit den Schriften verbracht, aber zu meinem Bedauern lief ich auf einem Weg, der mitten in die Bergwälder führte. Doch ich kam nicht dazu mir zu sagen, dies besser nicht zu tun. Die Zeit hatte ein kleines Stück von sich abgespalten und ließ es rückwärts zählen, sobald alle Körner der dazugehörigen imaginären Sanduhr durch das Rohr gefallen waren, war das Leben des Mädchens beendet. Daran bestand kein Zweifel.

Ich schaffte es, den Abstand konstant bei einigen Metern zu halten, die Gestalt war ungeahnt schnell, bis sie zwischen die dichten Bäume am Wegesrand tauchte und mein Blickfeld mir reine Schwärze offenbarte. Ich bog ebenfalls ab, stolperte mehrfach ohne zu fallen und riss einen dicken Zweig im Vorüberlaufen ab. Meine rechte Hand zog den Dolch hervor, und ich suchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Wieder war es der Gestank, der mir ein Zeichen gab, diesmal stehen zu bleiben. Ein wiederholtes Zwinkern mit den Augenlidern in der Düsternis, und vor mir stand der Schemen. Langsam trat ich näher, würgend ob der Vergewaltigung meiner Geruchssinne. Da fiel es mir auf. Stark kam dieser Duft der Verwesung von vorn, aber gleichzeitig befand ich mich in ihm, wie in einer Wolke oder in einem Kreis. Weitere Schemen hatten mich umzingelt.

Mein Herz stockte fühlbar, diesmal war ich weit genug gekommen, um in die Falle zu geraten. Sie hatten sich offenbart. Ich blieb beherrscht, zwang mich zu lächeln, weil es ein gutes Gefühl gab, und positive Regungen sind in solchen Augenblicken wichtig. Es ist der Geist, welcher den Körper lenkt, und den Geist muss man fördern. Ich zerbrach die dünne Glasphiole in der Einhöhlung im Griff meines Dolches und schlug ihn zweimal gegen einen Stein am Lederriemen meiner Hose. Ein Funke sprang über und erreichte das Öl, welches aus dem zerbrochenen Glas durch eine Öffnung im Griff über die Klinge des Dolches lief, die zügig von züngelnden Flammen gesäumt wurde. Mein Feuerdolch, welch wertvolles Werkzeug. Half er doch meine neuen Feinde endlich zu erkennen, was ich mir gern erspart hätte.

Im Fackelschein der Klingen traten weitere Gestalten in schwarzen Umhängen zu mir, längst war ich eingeschlossen von den scheußlichen Wesen. Teils fehlten Kiefer, oder sie hingen deplaziert am Gesicht. Aber auch weitläufigere Arten der Deformation waren erkenntlich. Eine Hand, weggerissen, ein Arm, der durch ein einziges Stück Fleisch vom Abfallen gehindert wurde, ein fehlender Hinterkopf, den man im Profil bemerkte. Mein Magen würgte wieder, mein Körper reagierte und nahm Verteidigungsposition ein. Aber ein Kämpfer war ich nicht, wollte ich nie sein.

Die Kreatur mit dem Mädchen bewegte sich weiter aus meinem Blickfeld, aber die anderen verstellten den Weg und würden mich nicht folgen lassen. Sie gierten mich zu zerfleischen, deuchte es mir. Kaum stürzten sie los, als ich kühle Stärke an meinem Rücken gepresst spürte, eine absolute Kälte, die selbst den Geruch zu negieren schien. Ein Schleier sanfter Nebel umfing mich und Vertrautheit stellte sich ein. Seite an Seite – Rücken an Rücken, der unsterbliche Sterbliche und die lebende Tote. Aliana hinter mir, die übliche unserer gemeinsamen Kampfformationen, mit denen wir so oft vorlieb nehmen mussten, wenn der direkte Weg sich nicht vermeiden ließ, und man uns eingekreist hatte. Ich sah sie nicht, aber ich spürte ihre weise Stärke, die Ruhe, welche selbst im Kampf von ihr auszugehen vermochte. Um uns die Kreaturen, beleuchtet vom Flammenschlag meines Dolches, doch ein Wall von Schatten, der sie von uns trennte.

Niemals zuvor hatte ich solche Gegner erblickt, aber auch nie zuvor hatte ihre Art die Kraft einer Schattengängerin verspürt, die Machtlinie Imhoteps. Die Kreaturen stockten einen Augenblick, sie nahmen das plötzliche Auftauchen Alianas und des Schattenwalles wahr, dann begann der Kampf.

Die Schatten heulten los, entfesselt durch die Macht der Schattengängerin, die sich selbst auf die Gegner warf, ihre zahllosen Mitstreiter, die ausschließlich Licht fürchten mussten, an ihrer Seite. Zwei der Kreaturen gingen auf mich los, mittlerweile hatte ich den Stock am Dolch entzündet, mit dem brennenden Holz konnte ich die linke auf Entfernung halten, der rechten trennte ich mit einem Hieb meines Dolches den verunstalteten Kopf vom Rumpf. Der Schlag ließ sich erstaunlich leicht führen, die Klinge glitt durch das verfaulte Fleisch nebst Knochen wie durch einen mit Würmern gefüllten Mehlsack. Ich war überrascht, als die Kreatur von links mich mit einem Schlag traf, und die Wucht mich zu Boden warf, den Stab verlor ich dabei. Sie kam näher. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Aliana Gestalten schlachtete, und gierige Hände, die aus schwarzen Flecken in der Finsternis bestanden, Kreaturen festhielten und an ihnen zerrten. Alianas Schatten kämpften ein weiteres Mal für uns. Treue loyale Soldaten, da sie nicht existierten, über keinen Willen verfügten, außer dem von einer Schattengängerin wie Alianas Machtlinie entfesselt zu werden. Die eigenen Schatten wandten sich gegen die Kreaturen. Mein Feind beugte sich über mich, seine Hand näherte sich meiner Kehle, und ich hieb erneut zu. Mein Dolch hatte wieder Erfolg, der verrottete Arm ging gelöst vom Rest der Kreatur auf meinen Körper nieder, Würmer fielen davon ab.

Doch der andere Arm schlug meinen Dolch fort, und wehrlos blickte ich in die toten Augen. Zwar konnte man auch Aliana nicht als lebend bezeichnen, aber sie war eine lebendige Tote, wenn ich versuchen soll in Kategorien zu denken. Aber diese Wesen waren leblose Tote. Leblose wandernde Tote. Mir war, als fehlte der Sinn hinter diesen Dingern. Nicht die Art von Sinn, welche die Zeit kannte, sondern die Art, die ausschließlich die Zeit kannte.

Die zweite Hand legte sich auf meinen Hals, ich suchte sie zurückzustoßen, aber das Gewicht des Dinges stemmte sich mir entgegen. Der Gestank verging, aber auch alle Luft, die mein Körper als lebenswichtig erachtete.

Ein Schemen, ein Aufprall, eine gewaltig geifernde Schnauze, das Aufblitzen vieler glitzernder weißer Punkte, Stücke des zerfleischten Halses spritzten auf mich. Ich drehte mich unter den Resten des Körpers hinweg und sah wie Aliana die letzte Kreatur in Fleischbrocken zerriss. Ein Gedanke kam mir, jede dieser Brocken hatte denselben Sinn wie das Ganze, und da lag das skurille Falsche an diesen Dingern. Es gab sie nicht, es war nichts in ihrem Innern. Nicht mehr als in jeden einzelnen leblosen Brocken, und die bewegten sich nicht. Alles an ihnen, wenn sie noch eine Einheit waren, war falsch.

Ich erhob mich, klopfte meine Kleidung von dem stinkenden Zeug los, hob meinen noch brennenden Dolch wieder auf und trat zu dem riesigen Wolf neben mir, der wie ich zu Aliana schaute: »Vielen Dank Euch, Ethrel.«

Der Wolf knurrte knapp. Aliana hantierte gebückt einige Meter entfernt und kam danach zu uns: »Hilo?«, sie schaute mich aufmerksam an.

»Alles gut, Aliana«, beruhigte ich sie.

»Gut, ich sah Ethrel schon springen, bevor ich meine Schatten losjagte.«

Wie gut es ist behütet zu sein. Man sollte sich allerdings nicht darauf verlassen.

»Ethrel, hast Du das Mädchen?«, fragte Aliana ihren Adjutanten. Der Wolf knurrte wieder und ging langsam tiefer in den Wald, wir folgten ihm. Ich dachte mir, wie viel schlimmer der Gestank für seine weit besser ausgebildete Wolfsnase sein musste.

»Endlich, Aliana, ich hätte weitere Misserfolge nicht mehr verkraftet«, bemerkte ich erleichtert.

Aliana lächelte mich an und hakte ihren Arm bei mir unter, ich spürte die weiche Kühle ihres harten Körpers.

»Ach, in den ersten beiden Dörfern hatten wir einfach Pech, Hilo. Da haben wir alle nichts rechtzeitig bemerkt. Aber diesmal können wir feiern«, erwiderte sie, und ich spürte auch ihre Erleichterung, dass wir endlich einen Schritt weiter waren. Zuviel hatten wir bereits in diesen Bergen verloren, zwei Mädchen. Ein drittes – ich weiß nicht, wie ich das verarbeitet hätte.

Ethrel führte uns zu dem Mädchen, die Kreatur daneben war von zahlreichen gewaltigen Bisswunden gezeichnet – aber nicht sonderlich mehr entstellt als zuvor. Aliana kniete über dem Sonnenstrahl, hob das Mädchen behutsam und doch voller Kraft empor: »Ethrel, dort hinten habe ich zwei von denen bewegungslos gefesselt, die Schatten sollten dort noch wachen. Besorge zwei Säcke und verstaue sie gut. Beide verwahre sicher in Deinem Unterschlupf«, sprach Aliana zu dem Wolf. Ethrel knurrte zustimmend und sein gewaltiger Wolfsleib schritt davon. Obwohl die Form des Wolfs ihm in diesen Tagen vorrangig zusagte, würde er seine Gestalt ändern um der Aufgabe nachzukommen. Der Tierwandler, ursprünglich aus dem Hause Skara Brae, tat dies aber lieber ungesehen. Aliana und ich kehrten zu dem Dorf zurück.

»Aliana, was sind das für Dinger?«, stellte ich meine quälendste Frage, jetzt wo wir erblickt hatten, was die Mädchen in den anderen Dörfern entführt hatte. Noch immer beeinträchtigte mich der bestialische Gestank. Aliana schüttelte unwissend den Kopf: »Du bist der Mensch, Hilo. Du hast Phantasie, gib ihnen einen Namen. Damit wir wissen, was sie sind.«

»Untote«, sprach mein Mund. Und damit gab ich den verstoßenen Kindern des Todes einen Namen.

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt