KAMPF UM DIE KAMMER

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Wir kennen den Ausspruch: die Zeit fordert ihre Opfer. Wer von den Sterblichen hat jemals die Ausmaße erfasst, mit der dieser Satz sich in unsere Realität schiebt, und die Zeit mit einem legitimen Selbstverständnis angemessene Verluste von uns beansprucht. Unser Helikopter donnerte über die Landschaft, ich hielt die Augen geschlossen und nahm den Lärm der Rotoren als Wellen wahr, die in meinem Innersten gegen mich preschten. Als ich die Augen öffnete, erblickte ich Jahrtausende alte Augen, die in diesem einem Moment lediglich mein Bild aufnahmen.

Das Auge, Oculus. Durchdringt Licht seine schützende Hornhaut und landet in der Pupille, der Öffnung innerhalb der Iris, die auch als farbige Regenbogenhaut bekannt ist, gelangt es in das gallertartige Augeninnere und zu den Zapfen für das farbige Sehen und die Stäbchen für den hell und dunkel Abgleich. Dadurch, dass das Auge nur 0,02 Prozent unseres beinahe zweihundert Grad großen Sichtfeldes scharf sehen kann, ist es immer, auch bei scheinbar ruhendem Betrachten, damit beschäftigt sich in kurzen Saccaden im Durchschnitt fünf mal pro Sekunde schlagartig zu bewegen und somit Bereiche, die wir fokussieren, scharf zu zeigen.

Das Auge der Vampire ist anders. Sie können ruhen, denn ihr Anteil am scharfen Bereich im Vergleich zum gesamten Bild ist weit größer als der unsere. Eine retroreflektierende Ebene, die die Netzhaut umgibt, schenkt ihnen mehr Empfinden für die Nacht, wie bei Katzen. Imhoteps Weisheiten. Diese Augen forschten, suchten, wollten verstehen. Aber niemals würde diesen Wesen das gelingen, was selbst mich wie zahllose Philosophen aller Zeiten oft genug vor Grenzen stellte. Einen Sterblichen interpretieren.

Ein Bruchteil Alianas Existenz, meine Jahrhunderte auf Erden, halfen mir, die Menschen und ihre Handlungen einzuordnen. Aber ich hatte gelernt, nie zu viel anzunehmen, zu sehr zu deuten. Gedanken laufen schnell in Sackgassen, wenn man sich mit Menschen beschäftigt. Als Teil ihrer Art habe ich die Erlaubnis, dies ohne Häme sagen zu können. Ihr Leben zieht an mir ebenso vorbei, wie an den Geschöpfen der Nacht um mich herum, dennoch bin ich ihnen mehr verbunden. Ich trage ihre Wärme in mir, die Jahrhunderte hatten dieses menschliche Feuer nicht abklingen lassen, wie Aliana immer erwähnte. Ich glaube, dieses Feuer ist es, was man als Seele bezeichnet. Das würde bedeuten, Alianas Art und allen anderen Geschöpfen fehlt eine Seele. Wenn jedoch das Feuer die Seele ausmacht, dann macht es den Menschen nicht zu einem elitären Wesen der Schöpfung, viel mehr ist es das, was uns Kriege führen lässt und in dem alles Bösartige seinen Ursprung hat. Vielleicht demgegenüber aber auch der mitfühlende Gute Kern. Ich für mich war mir bewusst, gern auf dieses Feuer zu verzichten, wenn mir die Möglichkeit dargeboten wäre. Allerdings hätte ich mich nicht mit der Alternative, zu den Blutdürstigen bekehrt zu werden, abfinden können.

Das Feuer ließ mich in diesem Augenblick nicht Alianas Augen auf mir spüren, aber die Augen eines anderen auf ihr, die ich am Rande erblickte. Diese fremden Augen, erwachsen aus den vergötternden Augen eines Kindes, schauten auf Aliana, und mein Feuer loderte auf. Aber wie fanden bereits weise Menschen heraus: dort wo Hass vernichtet kann erst Liebe wieder aufbauen.

Und so befanden wir uns auf dem Landeanflug zu dem Ort, an dem wir der Zeit ihr Opfer dargeboten hatten, an dem ein Wesen, seinem Körper beraubt und fast so lange wie ich lebte, gefangen verbracht hatte, an den Ort der Entscheidung. Wir bestanden aus dem Dunklen Arm der Templer unter dem Kommando von Nathan Mackinnons, Aliana aus dem Hause Imhotep, Fürstin des Hauses Baphomet in ihrer modernen Kriegsrüstung und ich – ein Mensch ohne zeitgemäße Waffen, ohne jeden Tag trainierte Muskeln. Aber mit einem Feuer, das jeden anderen Menschen überdauerte.

Der Hubschrauber zerdrückte einige Pflanzen, als er auf dem nahe gelegenen Feld aufsetzte, die Ruhestätte zahlreicher Kleintiere mit Donner störend. Als wir die Kirche betraten, musterte ich sie mit üblichem Interesse. Die St. Georg Kirche in Kraftshof oder Craphteshof, wie der Ort ursprünglich hieß, bei Nürnberg ist im frühen 14. Jahrhundert entstanden und betört mit einer rundum umgebenden Wehrmauer mit Türmen. Seit langer Zeit war sie Verwahrungsort für den Göttlichen Staub und stand unter dem Schutz meines Hauses. Mehrfach hatten indirekte Spenden von Aliana Baumaßnahmen an der Kirche gefördert. Die Kirche gehörte zu der kleinen Ortschaft, die gerade einmal um die 700 Einwohner zählte und lag in der Einflugschneise des Flughafens der Metropolregion Nürnbergs.

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt