Die Menschen, welche lediglich eine Zeit leben, sie werden niemals wahres Verstehen für meine Gefühle aufbringen. Während ich angesichts der Kälte der Geschöpfe der Nacht schwächle, wenn mich Emotionen plagen, so leide ich weitaus schwerer, wenn mich Menschen voller Unverständnis ansehen. Denn denken sie bei einer erlittenen Verletzung an Schmerz, denke ich an die Qualen ganzer Generationen, sehen sie das Bild eines sterbenden Kindes, erinnere ich mich an die mit Frauen, Männern und Kindern übersäten Schlachtfelder der Geschichte. Denken sie an Liebe, blicke ich auf sie, denke, wie kurzweilig dieses Unterfangen für sie ist, und wie endlos sich jeder neue Schritt in meinem Leben dagegen zieht. Das Menschliche wird mir ferner, je mehr ich mich daran klammere. Über 800 Jahre der Existenz ändern die Sicht, lassen Gesetze, Recht, Ordnung nicht mehr als gegebene Grundregeln erscheinen, ähnlich Sprachen und scheinbar beständige Städte in Stasis. Nichts ist unveränderlich, alles unterliegt der Zeit, lediglich die Zeitspanne eines Menschen ist zu schmal dies zu vernehmen. Was immer geschehen mag, ich gehöre nicht mehr in die Welt der Menschen, bin ihr ferner als es ein Mensch sein darf, bin verloren im Dasein.
Aliana ist meine Lilie. Sie lässt mich die Zeiten des Zweifels, der Depression, der Verlorenheit überleben. Lilien sind wunderschöne Blumen, die aus Allium heranwachsen und aus der Familie der Alliaceae stammen. Sie haben die Fähigkeit sich mit ihren in die optimale Tiefe zu ziehen, sich in der Tiefe der Dunkelheit bestmöglich zu verankern. Es gibt im Allgemeinen drei Blütenformen, aber für mich besitzt die Lilie, die Aliana symbolisiert, die schalenartigen Blüten. Eine Lilie besteht aus genau drei gleich geformten Blütenblättern, eine göttliche Zahl. Eine weitere Besonderheit der Pflanze ist die fast vollständig fehlende Berufung zur Selbstbestäubung. Sie benötigt fremde Pollen um sich fortzupflanzen, wie auch die Kinder der Dunkelheit nicht vermögen, Nachkommen von sich aus zu gebären.
Seit jeher gilt die Lilie als Zeichen des Todes, aber sie steht auch für das himmlische Paradies. Auf vielen Darstellungen des jüngsten Gerichts befindet sie sich zur der rechten Seite Jesu Christus bei den auserwählten Seelen. Die Lilie war ein perfektes Symbol für meine Fürstin. Erwachsen ist die Lilie nach der griechischen Mythologie aus Tropfen der Milch aus Heras Brüsten, Aphrodite selbst muss aufgrund der Schönheit dieser Blume in Raserei verfallen sein, so dass sie die Pflanze mit einem Eselsphallus als Stängel zu verdammen suchte.
Meine Existenz war wie der Stein der Weisen gehütet, war diese Existenz nicht der Stein der Weisen? Was ist der Stein der Weisen? Aus Sicht Alianas Art war es ein behütetes Geheimnis, ein Ritual, das nur den Ältesten unter ihnen bekannt war, die Vernichtung eines Vampirs. So dachten sie. Aber Imhotep stellte seit langer Zeit, genau betrachtet, seit dem Tag, an dem er meiner Kopfwunde Aufmerksamkeit geschenkt hatte, neue Hypothesen an. Keine Vernichtung, aber die Schaffung eines ewigen Gefängnisses für einen ihrer Art.
Für die Menschen ist der Stein der Weisen ein Mythos. Eigentlich ist der Stein der Weisen in den Legenden der menschlichen Welt eine Substanz der Alchemie, mit der man Metallarten in Gold verwandeln können soll. Diese Kräfte sind in der Welt der Dunkelheit nicht damit assoziiert. Doch soll es eine Verbindung dieser Substanz, von der teilweise als das Große Elixier, die Rote Tinktur, Roter Löwe aber auch Magisterium gesprochen wird, mit Rotwein geben. Dem daraus entstehenden Trinkbaren Gold alias Aurum Potabile werden heilende Kräfte und Verjüngung nachgesagt. In der Geschichte der Alchemie begaben sich viele berühmte und intelligente Menschen auf die Suche nach dem Stein der Weisen, darunter zum Beispiel der Franziskanermönch Roger Bacon im 13. Jahrhundert oder Nicolas Flamel. Letzterer hatte großherzig Gold, das er angeblich aus Silber geschaffen hatte, verschenkt, als Dank wurde er auf den Eingängen vieler Krankenhäuser und Kirchen verewigt. Er wurde gemeinsam mit seiner Frau Pernelle tatsächlich unsterblich – in der Welt der Dunkelheit. In ihren Gräbern fand man daher bei Ausgrabungen lediglich hinterlegte Baumstämme. Sie alle fanden den Stein der Weisen nie, wer konnte auch ahnen, dass er einem kleinen Jungen im 12. Jahrhundert völlig ungewollt gegen den Kopf fiel – wobei die Existenz weiterer Steine natürlich möglich ist. Die Suche war insgesamt für die Menschheit betrachtet dennoch ergiebig, 1669 überkam es den deutschen Apotheker Hennig Brand, und er dampfte tatsächlich Urin ein, weil er hoffte die Panazee des Lebens, den Stein der Weisen aller Alchimisten zu finden. Dabei ergab sich, nach weiteren absurden Schritten, auf die nur ein Mensch kommen kann, das erste Phosphor der Menschheit, sein Ziel erreichte der Apotheker nicht. 1907 erfand Alchemist Johann Friedrich Böttger mit dem Naturwissenschaftler Ehrenfried Walther von Tschirnhaus als Nebenprodukt ihrer Suche das chinesische Porzellan. Menschlicher Eifer ist mit Skepsis zu betrachten, da er selten zum Ziel führt, aber was auf dem Weg an Auswurf abfällt, ergibt die Lebensweisheit, dass der Weg das eigentliche Ziel ist. Heute sind die Wissenschaftler ein wenig klüger und die irrige Annahme, Metallumwandlung auf chemischem Wege vorzunehmen, was die Alchemisten ausmacht, nahezu widerlegt. Derzeit probieren sie es mit Kernphysik, teilweise mit Erfolg. 1980 gelang Glenn T. Seaborg damit bereits, Bleiatome in Gold zu verwandeln. Der Stein der Weisen – möge er ewig währen, die Suche danach wird es.
Für mich war der Aspekt der Verjüngung, also des ewigen Lebens, der wichtigste Aspekt aller Legenden, traf mich dieser mehr denn andere. Marketa hatte mir meine Geschichte und die des Steins der Weisen aufgeschlüsselt; Aliana hatte nie gewollt, dass ich die Hintergründe kenne. Ich selbst habe seither die Legenden und Mythen, die unter den Menschen kursieren, aufmerksam studiert, und mich gehütet den Stein bei Vampiren zu erwähnen. Nichtsdestotrotz habe ich angespannt gelauscht, wann immer ein Gespräch in der Nacht auf das Thema fiel. Bei den Vampiren galt der Stein als Zerstörung, als etwas Schreckliches, dass die Alten gemeinsam in einem Ritual einem Geschöpf der Dunkelheit antaten, wenn es keine andere Lösung im Umgang mit einem der ihren gab. Das Ritual soll bereits mindestens einmal durchgeführt worden sein, genaue Zahlen kannten ausschließlich die Uralten der Vampire, die nicht darüber sprachen. Longinus selbst schien zu den Opfern des Rituals zu zählen. Letztlich konnte es jedem nicht mehr aufgetauchten Vampir zugefügt worden sein, hüllten sich die mächtigen Fürsten darüber in Schweigen.
Trage ich somit den Stein in mir? Diese Frage ist unwichtig. Wie Aliana über Vampire sagt, es ist unwichtig, wer ein Vampir ist, finde heraus wer er war. Ähnlich denke ich, ist es mit dem Stein. Es ist nicht wichtig, ob der Stein in mir schlummert, aber wenn, so ist wichtig, wessen Gefängnis er darstellt. Denn nicht der Stein als solcher ist die Kraft, die mein Leben erhält, es ist die Macht darin. Doch seine Kraft würde nicht reichen, wenn mein Geist angesichts der nicht für ihn geschaffenen Lebensspanne verzweifelte und dahin siechte. Hier schließt sich der Kreis, denn in der Alchemie benennt Lilie einen silbernen metallischen Samen, der unabdingbar für die Erzeugung des Steins der Weisen ist. Mir verlangte nach Alianas Nähe, nach ihrer Zuneigung, nach ihrer Liebe, nach ihrem Selbst zu meinem Leben.
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Nacirons Vampire II - Blutlinie
VampiroAuch erhältlich auf Amazon: https://www.amazon.de/Nacirons-Vampire-Blutlinie-Oliver-Szymanski-ebook/dp/B00EELF236 Die Geschichte ist bereits abgeschlossen und wird hier bis zum 24.12 nach und nach veröffentlicht um Euch durch die Adventszeit zu brin...