ZUM DRITTEN HAHNENSCHREI

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Es gab einen Verräter unter den Vasallen des Hauses Baphomet, denn kein Haus ist frei von Stimmen, die von innen gegen es gerichtet werden. Jetzt hatte uns die Zeit den dritten Hahnenschrei treffen lassen. Denn wie Jesus bereits von einem der engsten seiner Jünger denunziert wurde, so hatte die Erbin seines Blutes in der Welt der Dunkelheit ihren Judas gefunden. Doch während die Welt Jesu Christus eine Welt der Versöhnung und des Verzeihens war, befanden wir uns in der Welt der Nacht.

Ich wusste nichts davon, als ich die Haupthalle betrat, statt des geräumigen modernen Salons in unserem Hochhaus in New York ein altehrwürdiger Saal aus vergangen Zeiten in unserem Domizil in der Umgebung von Nürnberg, der voll mit Prunk und über die Zeit angesammelten Liebhabereien war. Aber ich wusste, dass Aliana die gefangenen Vampire hatte auferstehen lassen, um sie zu befragen, die Ergebnisse kannte ich bislang nicht. Gideon begrüßte mich bereits am Eingang, Aliana saß auf einem bequemen thronähnlichem Sitz auf einer Anhöhe. Hinter ihr die hohen Fenster in der rund gebogenen Wand. Über ihr die mit einem, einen wunderbaren Engel zeigenden, Gemälde verschmückte Kuppel. Diese Sitzgelegenheit der Fürstin war offiziellen Anlässen vorbehalten. Yara Fortaleza stand mit zwei weiteren Templern – entgegen fünf modern gekleideten Wachen – in historischer Rüstung hinter Alianas Thron, Marketa weilte mit harter Miene in einer Ecke. Ich hörte ein Schluchzen, als mich Gideon zu meiner Fürstin führte und wandte mich herum. An der Wand links des Einganges warteten mehrere Bedienstete, sie waren mir aus dem täglichen Leben in diesem Anwesen bekannt. Es waren elf Menschen gemischten Alters, darunter sieben Frauen. Eine der älteren Frauen weinte, eine andere hatte den Arm um sie gelegt und schien sie zu beruhigen und zu trösten. Die alte Dame trug ein Kopftuch, wie man es aus den Nachkriegsjahren in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus Deutschland kannte. Sie war sicherlich bereits lange Zeit in unseren Diensten. Es waren Männer und Frauen aus den Familien unserer Vasallen, den Menschen, die uns über die Templer hinaus immer treu zur Seite gestanden hatten. Aliana war ihre Lehnsherrin, war damit für ihren Schutz und für Hilfe bei Problemen verantwortlich. Stets hatten wir dies ernst genommen und uns würdig gegenüber unseren Vasallen erwiesen, selbst damals, als uns im 15. Jahrhundert die Bitte ereilt hatte, entfernten Verwandten unserer Vasallen aus der Walachei zu helfen, deren Töchter unbekannt entführt worden seien. Vasall und Lehnsherrschaft sind zwei Seiten einer Medaille. Jeder muss geben und darf nehmen.

Ich trat vor Aliana und wollte sie fragen, was das zu bedeuten hatte, aber ihr Gesichtsausdruck ließ mich von meinen Vorhaben ablassen, und ich trat lediglich rechts an ihre Seite neben den Fürstensitz. Gideon stellte sich zu ihrer linken auf. Alle Bediensteten wirkten besorgt und eingeschüchtert auf mich. Sie dienten den Vampiren, aber vor sie gerufen zu werden, machte ihnen Angst. Alianas Miene sah dazu nicht aus, als handelte es sich um einen freudigen Akt, der hier wartete. Mehr Kälte denn je sprach aus ihrem Blick.

Herrisch erhob sie ihre Stimme: »Als Vasallen habt Ihr mir und meinem Haus Treue und Loyalität geschworen, dafür bin ich Euch zu gleichem verpflichtet und biete Euch Schutz und Frieden in der Dunkelheit. In ewiger Freundschaft bin ich Euch und Euren Familien verbunden. Versammelt seid Ihr hier nach meinem Ruf, da ein Verräter unter dem Schutz meines Hauses weilt, unter Euch Vasallen. Hier von unserem fränkischen Anwesen wurde dem Feind Kunde getragen. Ich weiß, dass der Abtrünnige unter Euch weilt. Dies bedeutet, einer unter Eurer Zahl hat Verrat geübt, die anderen jedoch sind treue Vasallen. Prinz Gideon des Hauses Imhotep, in Freundschaft meinem Hause verbunden und Teil meiner eigenen Familie der Nacht, ist in der Lage in Eure Geister zu schauen und mir Eure Gesinnung zu nennen. Dieser Akt allerdings zwingt Euch seinen Willen auf und wird Schmerzen zufügen. Eine Lehnsherrin sollte ihren Lehnsträger keinen Schaden erdulden lassen. Daher betrübt mich die Aussicht, Gideon darum zu bitten. Uns allen wäre geholfen, wenn der Ausüber des Verrats vortritt, und uns allen Gräuel erspart und ehrenhaft für seine Taten eintritt.«

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt