Nacirons Vampire II - Blutlinie

DER SILBERNE SAME

Die Wege der Nacht sind unergründlich. Was mich nicht davon abhielt, Licht in die Dunkelheit zu bringen.

An dem Abend, an dem wir wieder unseren Hort in New York City als Stützpunkt verwendeten, kehrte ich vom Café, in dem ich gern zum Schreiben weilte, da mir der Geruch des Kaffees und das von anderen Gedanken ablenkende geschäftige Treiben bei der Konzentration half, in einem der berühmten Yellow Cabs zurück. Die Sonne war bereits untergegangen, und ich begab mich direkt zu Alianas Suite. Leise, wie es meiner antrainierten Natur entsprach, schritt ich über die weichen Läufer mit meinen leichten Schuhen, und hörte Stimmen durch den samtenen Vorhang zum Nebenraum. Das Gespräch zwischen Aliana und ihrem Vater Imhotep.

»Ich habe Dich bereits vor 500 Jahren um Erlaubnis gebeten, Vater, und Du hast sie mir gewährt!«

Meine Fürstin klang ein wenig ungehalten. Der gelehrte Vater sprach dagegen ruhig und beherrscht wie immer.

»Ja, ich gab Dir meine Zustimmung. Aber esist nicht lange her, Du solltest mit Bedacht wählen.«

»Vater, ein halbes Jahrtausend ist für Hilo eine Ewigkeit.«

»Aber nicht für Naciron, der er ist in der Unsterblichkeit. Zeit spielt für ihn ebenso wenig wie für uns eine Rolle.«

»Er ist weiterhin ein Mensch, und der Unterschied zu uns besteht gerade darin, dass Zeit für ihn eine Rolle spielt. 500 Jahre sind genug, meine Wahl steht fest«, bekräftigte Aliana ihren Standpunkt.

»Und Mackinnons? Es gibt Gerüchte, Aliana.«

Mein Herz sackte davon.

»Nathan ist wie ein Kind, das sich für mich entflammt hat. Ich sprach lange mit ihm, über seine Zukunft unter den Templern, sein Kommando über die Nachteinheit und die Verantwortung, die er trägt. Er wird lernen und verstehen.«

»Aber Kalai ist gerade erst vernichtet. Es wäre besser ...«

Zum ersten Mal konnte ich bezeugen, dass ein Kind Imhoteps ihrem Ahn das Wort nahm: »Nein, kein weiterer Aufschub!«

Eine Sekunden schwiegen beide. Ich überlegte mein Kommen anzukündigen, aber Imhotep unterbrach mich.

»Aliana, liebste Tochter, hübscheste Prinzessin aller Zeiten. Dein Wunsch soll Erfüllung finden, wenn Du ihn ein letztes Mal bekräftigst. Aber bedenke, was Du bei Hilo voraussetzt.«

»Ich weiß um seine Gefühle«, erwiderte sie rasch.

»Ja, aber weißt Du, ob sie Hilo selbst, oder seiner Existenz als Naciron obliegen? Wir kennen die Mächte des Steins nicht und haben sie bereits unterschätzt, bis wir Hilos Existenz verstanden haben. Unterschätze sie nicht erneut.«

»Aber seine Gefühle ...«

»Aliana«, sprach Imhotep beruhigend auf sie ein, »nicht viele Steine kommen in Frage, wie oft haben wir Ältesten das Ritual in allen Zeiten vollzogen? Du weißt es wie ich. Trägt er vielleicht Longinus oder gar Kain in sich? Bedenke Deine Beziehung zu diesen beiden unserer Art. Vielleicht sind seine Gefühle Kontinuitäten aus der Beständigkeit von Gefühlen der eingeschlossenen Wesen.«

»Longinus und Kain?«, hörte ich Aliana entgeistert sagen, »Nein. Selbst wenn, Hilos Gefühle sind echt.«

»Ja, aber sind es die seinigen? Ist es nicht, dass der Stein ihn erst in die Unsterblichkeit rief, sein Altern aufhielt, als Deine Nähe verspürt wurde, meine Prinzessin? Vielleicht ist es keine neue menschliche Liebe, sondern die Liebe der Fürsten, über die wir das Ritual gesprochen haben, bist Du nicht der silberne Same der Liebe, welchen das Ritual des Magisterium, der Rote Löwe, der Ewige Verschluss, gefordert hat? War es nicht Dein Blut, das Blut der Geliebten, welches das Ritual vollendet und sie auf ewig eingeschlossen hat?«

»Aber Vater ...«

»Aliana, bist Du Dir wirklich sicher?«

»Ja, dies bin ich!«

»Dann frage ihn.«

Ich grübelte über den Gesprächsteil den ich vernommen hatte, und ob ich mich heraus schleichen und neu lautstärker Einlass suchen sollte, als Gideons Stimme erklang: »Hilo nähert sich.«

Der tiefgründige Geistlenker war bei dem Gespräch zwischen Vater und Tochter anwesend, und bewusst musste er meine vorzeitige Anwesenheit verschwiegen haben. Wann würde ich erfahren, ob es sich um einen Segen oder einen Fluch handelte, dass ich aufgrund seines Willens die Worte vernommen habe?