SCHNEEWEISS

78 5 0
                                    


Gegen Ende des 20. Jahrhunderts.

Eine Geschichte über Vampire muss Jahrhunderte umspannen, denn die Wesen der Nacht leben in diesen Dimensionen. Die sie betreffenden Ereignisse entfalten sich über die Leben zahlreicher Menschen hinweg. Es begab sich zu einer Zeit, als ich lernte den Schnee zu lieben. Gut, vielleicht ist es ehrlicher zu sagen, dass ich seiner natürlichen Kälte und Feuchtigkeit nicht mehr den gleichen negativen Enthusiasmus entgegenbrachte, wie früher.

Aliana hatte ein Gut in den Skigebieten Italiens erworben, es lag so fern jeder Zivilisation, dass wir es aus der Luft mit einem Helikopter zu erreichen hatten. In hohen Bergen. Nicht irgendwo, nein – in der tiefsten Kälte. Selbst im Sommer wäre hier ein Hemd ohne Ärmel gewagt gewesen. Vielleicht übertreibe ich aber auch. Jetzt hatten wir keinen Sommer, der Winter ging langsam zu Ende. Und in seiner Todesphase gab er sein Bestes um gegen jedes bisschen aufkommende Wärme anzukämpfen. Dennoch – der Schnee hatte auch seine angenehmen Seiten. Wenn man vergaß, wie dumm man sein musste, um sich unter Mühen und viel technischem Aufwand in Höhen zu begeben, in denen man bereits Druck auf den Ohren spürte, um dann auf Brettern jeglicher Form an den Füßen, oder für noch Wahnsinnigere auf dem Rücken oder Bauch, Richtung Tal hinab zu fahren. Unverhohlen muss ich zugeben, dass ich trotz meiner Jahrhunderte alten Weisheit keine Begründung dafür finden konnte.

Auch muss ich zugeben, dass ich trotz dessen nach drei Tagen Quälerei dazu überging, freiwillig ein Board an meine Füße zu schnallen und mich der Tiefe zu stellen. Snowboarden. Meine neue Passion. Oder einer alten japanische Weisheit zur Folge: meine alte Passion. Denn sie sagt, dass wir nichts erlernen können, was wir nicht bereits in uns tragen. Für mich blieben alle, die den Berg hinab fuhren, Teil der Kaste der Dummheit, allerdings zählte ich mich fortan dazu.

Aliana und ihr dunkles Gefolge waren unter dem Schutz der Ritterschaft der Templer gut in dem zur Festung ausgebauten Gehöft behütet, ich durfte tags abwesend sein und für einige Tage nachts schlafen. Eine Art Urlaub. Aliana und ich tankten Kräfte. Es handelte sich um ein Domizil zum Zurückziehen und Ausruhen. Die frische Luft und die Bewegung taten mir gut. Auch der – wenngleich oberflächliche – Kontakt zu anderen Menschen außerhalb Alianas Welt der Nacht. Ich genoss die Zeit, nicht ohne mein anderes Leben zu vermissen. Aber solche Pausen waren in den Jahrhunderten häufig notwendig.

Wenn ich tags mit dem Snowboard hinab kurvte, mit Gondeln die eigentlichen Skigebiete erreichte, um weiter den Kräften und der Geschwindigkeit einerseits nachzugeben, partiell zu trotzen, so nutze Aliana die Nacht.

Für ihre Art war Kälte nicht vorhanden, nicht eine Wand, die gegen den Körper prallte. Für Aliana war sie transparent, in allen Sinnen. Leicht bekleidet spazierte sie im Schnee herum. Ich dagegen schaffte zwar, mit dem Board hinunter zu stürzen, aber in Stiefeln wenige Meter den Berg zu erklimmen, erschöpfte mich bis an die Grenzen. Doch für meine Göttin war der Schnee nichts. Ihrer Kraft konnte er nichts entgegenbringen, nicht einmal seine Massen. Nacht für Nacht, sobald die Sonne am Horizont entschwunden war, trat sie hinaus und wandelte leichtfüßig durch die weiße Fläche, die immer schwärzer erschien um schließlich blau zu leuchten, wenn der Mond den Platz der Sonne einnahm. Sie schlenderte durch die eisige Kühle, genoss die menschenleeren Strecken auf ihren kilometerlangen Fußmärschen. Ich begleitete sie nie, noch in Sichtweite es Gutes hätte mir jede Luft gefehlt. Mit den Geschöpfen der Dunkelheit konnte kein Sterblicher konkurrieren, auch ich nicht.

Ethrel befand sich daher an ihrer Seite. Er schien die Läufe durch den Schnee in seiner Wolfsgestalt zu lieben, raste vor und zurück, zog Kreise und Bahnen um Aliana, die sich langsam bewegte. Aliana hatte mir davon berichtet, und manchmal sah ich von meinem Zimmerfenster aus, wie sie die Nacht begingen, Aliana in einem schwarzen Kleid in der vom Mond beleuchteten hellen Fläche. Vielleicht war Ethrel befreit, ohne Aufgabe seine Gestalt nutzen zu können, frei von Last. Er war offiziell zu Alianas Wache ernannt worden, aber hier schien keine Gefahr zu drohen. Auf den Bergen herrschten friedliche Zeiten in unserer Welt.

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt