DER FÜRST DER WALACHEI

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Ethrel folgte dem letzten untoten Gefangenen in die Nacht, nachdem Aliana einem Templer befohlen hatte, den Sack aus der Grube zu hieven und diesen zu öffnen. Der Untote bemerkte uns nicht einmal, als er mit unbeholfen wirkenden aber erstaunlich schnellen Schritten zielstrebig von dannen schritt. Der mächtige Wolf folgte mit Abstand, er konnte die Witterung ohnehin mit Leichtigkeit verfolgen. Ich setzte mich zu Aliana ans Lagerfeuer. Wir hatten keine Vorstellung davon, wo unser nächstes Ziel lag, aber wir hatten die Vermutung, dass diese Untoten nur des Nachts wandeln konnten. Dies bedeutete, ihr Zielort lag in Reichweite der Stunden der Dunkelheit.

Es war fast im Morgengrauen als Ethrel zurückkehrte, so dass nicht mehr die Zeit für lange Erklärungen des Tierwandlers bestand. Aber in der folgenden Nacht brachen wir auf, und der grimmige Wolf führte Aliana und mich durch die Dunkelheit. Ob es in seiner Natur, wie in der eines Wolfes stand, Teil eines Rudels sein zu wollen? Nach einigen Stunden des Wanderns erreichten wir den Ort, den Ethrel uns knapp beschrieben hatte. Es war eine Begräbnisstätte an einem kleinen Abhang, der Mond beleuchtete die Lichtung zurückhaltend. Die Gräber waren an den aufgeschütteten Steinen zur Abdeckung der Erdmulden dürftig zu erkennen. Hier wurden die Toten zur Ruhe gebettet. Aliana schritt vorsichtig in den Kreis der Steinhaufen hinein, ich bevorzugte es die Ränder der Lichtung abzusuchen. Ethrel blieb stehen und hielt aufmerksam mit seinen wölfischen Sinnen wahrnehmend Wache. Ich hatte die Stätte im Kreis umlaufen und stellte mich zu dem Vampir: »Ethrel, könnt Ihr fremde Menschen riechen, die hier waren?«

Ethrel knurrte, Aliana brauchte nicht mehr zu übersetzen, ja und nein von ihm konnte ich bereits deuten. Hier gab es keine menschlichen Spuren außer den meinen. Ebenso wenig die der Untoten, die hätte selbst ich gerochen. Dafür waren einige Steine verschoben und die Gräber darunter leer. Diese Toten wandelten wieder. Aliana kniete in dem Kreis nieder, verschränkte ihre Beine, ihre leichte Kettenrüstung raschelte dabei leise. Sie legte ihre Hände auf die Knie und versank in der Stille. Ich wusste, was sie tat, und Ethrel und ich bewachten den Ort, während sie die Schatten befragte. Diese Gabe konnte auf die Erinnerung von Schatten zugreifen, sie erforderte ein Höchstmaß an Konzentration. Häufig waren Vampire jüngeren Blutes beschränkt auf Teilbereiche in ihrer Machtlinie, sie spezialisierten sich auf Unterkategorien, um darin Beherrschung zu erlangen. Aliana war dermaßen kraftvoll, dass sie in vielen Bereichen der Schattengänger Macht auszuüben vermochte. Ich wusste nicht genau, ob es rein ihr eigenes Blutalter war, das ihr diese große Macht gab, oder ob ihre Kraft durch angenommenes Blut anderer Vampire angereichert war. Jetzt würde sie sehen, was die Schatten in dieser Nacht bereits vernommen hatten. Es war ähnlich der Gabe Gideons, aus dem Gedächtnis eines Menschen zu lesen.

Als Aliana aufstand, lächelte sie mir zu. Sie gab Ethrel eine Richtung an, und der Wolf verschwand mit großen Sprüngen hinter Bäumen.

»Ein Wojewode war hier. Er muss die Macht besitzen, die Leichen wandeln zu lassen.«

»Todeswandeln«, meinte ich in Gedanken und benannte diese Fähigkeit. Mir fröstelte, und ich trat näher zu Aliana, obwohl sie nicht vermochte zu wärmen. Sie legte einen Arm um mich und küsste mich auf die Wange. Wie fühlt sich ein Mensch, wenn er Jahrhunderte auf einen Kuss harrt? Er genießt ihn wie ein himmlisches Geschenk.

»Viele Wojewoden wird es hier nicht gerade geben, Aliana«, bemerkte ich, angesichts der Tatsache, dass der Herrscher der Fürstentümer Walachei und Moldau Wojewode genannt wurde, im Gegensatz zum sonstigen slawischen Raum, wo ein Wojewode bloß dem Rang eines Militärstatthalters unter einem Fürsten entsprach. Sie nickte bestätigend: »Die Schatten beschreiben einen Mann, den sein eigener Schatten vor den anderen als Wojewode bezeichnet hatte.«

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt