DER STAUB DER GÖTTER

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Die Welt ist voller Staub. Aller Anstrengung zum Trotze findet Staub Einlass in alle Nischen, kehrt zurück, wenn er beseitigt wird und lässt sich vom Wind treiben, bis er zu dem Ort kommt, der sein Ziel ist. Staub ist geduldig und hat einen Pakt mit der Zeit. Dieser Pakt sagt aus, dass der Staub lediglich lange genug warten muss, und die Zeit wird ihm erlauben überall hin zu gelangen. Staub ist, von der Sicht einiger ausgewählter Menschen ausgenommen, keine Bedrohung. Außer im Besonderen. Denn der Staub der Dunkelheit stellt die Substanz eines Vampirs dar, der die Auferstehung sucht. Dieser Staub lauscht dem Gesang des Letzten und Wahren Tropfens, des Kerns der Geschöpfe der Dunkelheit. Er horcht auf dessen Ruf und begibt sich unter Wind und Zeit, um dem Ruf nachzugehen. Es ist der Staub der Götter, und wer würde ihren Ruf missachten?

Im Laufe dieser Woche hatten uns zwei schlechte Nachrichten erreicht, die die Führung der Häuser Imhotep und Baphomet aufwühlte. Wir hielten die Informationen darüber unter Verschluss, aber ich war eingeweiht.

Manchmal muss man selbst den Staub der Götter hermetisch einschließen, damit die Götter nicht mehr auf Erden zu weilen vermögen. Dies war geschehen, zu Anbeginn meiner Zeit in der Dunkelheit. Mir war es erlaubt gewesen Kalai zu besiegen, selbst heute scheiden sich die Geister, wie ich dies vermocht hatte. Kalai, der Fürst des Hauses Baphomet und Alianas Ehemann in der Nacht. Dieser junge Gott, heute weiß ich, dass er damals keiner der altehrwürdigen Vampire war, sondern jung in seiner Geburtsstunde des Blutes, war zu Staub zerfallen, verbannt unter dem Befehle Imhoteps nach den damaligen Regeln. Seinen Staub hatten die Häuser Imhotep und Baphomet an vier Orte aufgeteilt, zwei davon jeweils unter der Obhut eines Hauses. Denn Auferstehung erfordert einen Zusammenschluss des Staubes, der dies, gerufen vom Wahren Tropfen, anstrebt. Die beiden Orte, welche unter dem Schutze Imhoteps gestanden hatten, hatten wir anfangs dieser Woche an Feinde verloren. Der göttliche Staub war entwendet worden. Wir ahnten, um nicht bereits von Wissen zu sprechen, wessen dunkle Kräfte dahinter standen, aber diese Tatsache änderte nichts. Das Hause Dracul war ohnehin unser Feind, verfehdet mit den Häusern Baphomet und Imhotep kämpften Vampire der zwei Fronten stets gegeneinander, wenn sie sich trafen. Zwar war der Krieg beendet und die anderen Häuser verhielten sich neutral, wir aber waren offiziell in Feindschaft verankert. Vielleicht hätten wir mit eindeutigen Beweisen die anderen Häuser mobilisieren können, aber diese fehlten uns. Meiner Meinung nach gingen die Fürsten Imhotep und Aliana angesichts der zwei Niederlagen nicht mit ausreichend Konsequenz den Schutz der verbleibenden Ruheorte Kalais Staubes an, aber mir stand die Anmaßung einer Beurteilung nicht zu. Das Haus Dracul suchte Kalais Bann zu lösen, die Wiederkehr des früheren Fürsten des Hauses Baphomet würde Alianas Stellung als Gebieterin mindern, wenn nicht zur Gänze beiseite schieben. Selbst ihre Position als Lehnsherrin der Templer war gefährdet, trug doch Kalai eine engere Blutsbeziehung zu ihrem Heiland. Allerdings, bei den Templern musste man bedenken, dass die Aliana gegenüber zweifelhaften Ansichten von Gründungsmitgliedern wie Hugo von Payns mit eben diesen verstorben waren. Aliana galt als ihre Notre Dame des Saint Marie, und Kalai machte eine schlechte Dame aus.

Wieder einmal mischten sich politische Überlegungen mit konkreten taktischen Handlungen. Die Nachteinheit flog mit mir zur Kathedrale von Canterbury in England, die auf einer alten Kirche aus dem sechsten Jahrhundert basiert. Dort fand mit der Ermordung Thomas Beckets bereits 1170 der bekannteste Mordfall in der Geschichte des Okzidents, unserer westlichen Welt, statt. Der frühere Freund und Lordkanzler König Heinrichs II. von England wurde 1162 schließlich Erzbischof von Canterbury. Daraufhin geriet er mit dem König in Meinungsverschiedenheiten über unrechtmäßig handelnde Kleriker, denn Becket vertrat die Meinung, der Klerus könne ausschließlich von einem himmlischen Gericht verurteilt werden. Letztlich geriet er zwischen Papst und König, und weitere Differenzen führten dazu, dass, nachdem der König »Wer befreit mich endlich von diesem elenden Priester« ausgerufen hatte, Becket am 29. Dezember 1170 von vier Rittern im Dunklen in die Kathedrale verfolgt wurde. Sie riefen nach dem »Verräter« und nach seinem berühmten Ausspruch »Hier bin ich, kein Verräter, aber Erzbischof und ein Priester Gottes« trugen sie ihn aus der Kathedrale in die Nacht, damit auf Boden des Herrn kein Blut vergossen wurde. Vor den Hallen seiner Kathedrale ermordeten sie ihn durch einen Schwertstreich. Drei Jahre danach sprach der Vatikan Becket heilig. Kein Wunder, immerhin hatte er für die Immunität der Geistlichkeit plädiert.

Nacirons Vampire II - BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt