Ruhe kehrte in dem Gasthof ein. Aliana hatte die Räumlichkeiten unlängst über ein Fenster in die Schatten verlassen, ich war allein. Allein mit meinen Gedanken, Hoffnungen und Ängsten. Ich ordnete meine Beutel und verstaute im düsteren Kerzenlicht mein Gepäck in einer staubigen Kommode. Das Bett wirkte einladend und gemütlich, leider würde es mir diese Nacht kein Heim bieten. Aliana hatte ihre Warnung ausgesprochen, und mir war bewusst, dass ich keinen Schlaf zu finden hatte. Mein vertrauter Dolch saß fest an meinem Gürtel, zuverlässig an meiner Seite. Ich schloss das Fenster, obwohl lediglich angenehme sanfte Sommernachtluft Einlass gefunden hatte. Aber man wusste nie, wer alles Einlass suchte.
Wir weilten in Clejani, ein Dorf in der Walachei. Genauer gesagt eine Ansammlung von mehreren Häusern samt darin wohnender Familien im Norden der so genannten Kleinen Walachei, im Rumänischen als Oltenia bezeichnet, innerhalb der Bergregionen der Karpaten. Unsere Reise hatte uns parallel zu diesen Karpaten hergeführt, dem Hochgebirge, das von den Alpen bei Bratislava und bei Wien beginnt, über 1.300 km weit in die Gebiete des heutigen Rumäniens reicht und die Walachei im Norden begrenzt. Ein wildes ungezähmtes Gebiet, dessen höchster Berg der Gerlachovský štít mit über 2.655 Metern ist. Lediglich die Alpen dominieren über die Karpaten als Gebirge in Zentraleuropa. Die Walachei als das Hoheitsgebiet, auf dem wir momentan wandelten, war seit 1324 ein autarkes Fürstentum, das sich einen Ruf als Bollwerk gegen die Osmanen verschafft hatte.
Hohe Bäume umgaben das leicht zu übersehende Dorf, welches in der Stille der Nacht idyllisch auf friedliche Reisende wirkte. Ich hätte jedes Tier vernehmen können, welches sich dem Haus nähern wollte. Tiere und Menschen in friedlichem Einklang. Im Dorf lebten ein Holzfäller, zwei Jäger, ein Bäcker, ein Fleischer und der Wirt, jeweils mit ihren Angehörigen. Eine kleine Gemeinschaft, die auf Lieferungen und Tauschhandel mit den umliegenden Dörfern angewiesen war. Ein Dorf, das niemands Aufmerksamkeit auf sich zog. Menschen, deren Schicksal der Welt nicht unwichtiger sein konnte. Ein Ort, an dem Politik begann, die mein Leben für hunderte Jahre bestimmen sollte.
Hinterher ist man immer schlauer. Ist die Zeit vergangen und hat das Schicksal zuschlagen lassen, weiß man, was man geändert hätte. Ein frommer Wunsch, der voraussetzt, dass die Zeit wie eine Konstante handelt und nicht reagiert. Aber die Zeit ist ein Lebewesen, sie weiß wohin sie will. Und wenn wir dagegen handeln, wird die Zeit keinen ihrer Momente vergeuden, sondern uns umschleichen, einlullen und hinterrücks ihre Ziele durchsetzen.
Lehne Dich nie gegen die Zeit auf, schwimm mit in ihrem Strom, denn sie ist das stärkste aller Lebewesen, sie ist die Welle, die uns trägt – und sie kann uns untergehen lassen. Manchmal ist man dumm genug sich zu wehren. Man zögert etwas hinaus, verschiebt eine Entscheidung, aber Jahre später, hunderte Jahre, gewinnt die Zeit. Sie hat ihr Ziel nie verfehlt, denn zur Not wartet sie.
Ich trat aus unserem Zimmer, eine kleine Kammer im Dachgeschoss des Wirtshauses. Unter uns schlief die Familie, darunter waren die öffentlichen Räume des Gasthofes. Ich trug eine Kerze, und gemäß meiner Ausbildung in den Künsten des Schleichens sowie daneben einer über zweihundert Jahre langen Erfahrung, ging ich behände als auch völlig lautlos die Treppe von der Dachkammer hinunter.
An dem Raum der Eigentümer vorbei nutzte ich die weitere Treppe und trat in den Gastraum. Ein Feuer im Steinkamin brannte derzeit um die Nachtruhe zu wärmen, angenehm für die Ohren knisterte das Holz und die Flammen loderten trügerisch sanft.
Feuer ist ein launenhaftes Wesen. Im Gegensatz zur Zeit fehlte ihm die Geduld und ein Plan. Es nimmt alles, zu dem es Zugriff bekommt. Im Augenblick war es friedlich. Ich zog mir einen Schemel in angemessene Distanz um der Wärme Annehmlichkeiten zu spüren. Meine Sinne öffneten sich, während ich einige Pergamentsammlungen aus einem Beutel zog. Abschriften von Dokumenten aus der Bibliothek des Hauses Imhotep. Ich suchte zu lesen, wann immer Zeit abfiel. Wissen, dies war es, was meine unsterbliche Familie mir schenkte, und ich nahm es dankbar an. Unzählige Briefe, Bücher, Schriften befanden sich in ihrer Bibliothek, ich hatte mir lediglich einen Bruchteil einverleibt. Aber auf jeder Reise nahm ich meine Abschriften mit, die Diener anfertigten, teils ohne dass sie verstanden, welche Schriftzeichen sie abpausten. Im Augenblick fesselte mich ein Bericht aus Imhoteps eigener Feder über die Notwendigkeit von Häusern in der Welt der Dunkelheit, die Necessitas Aedium.
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Nacirons Vampire II - Blutlinie
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