Kapitel 4

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Die Nacht war noch jung. Sie wurde immer unbeschwerter und ich spürte endlich, wie das Leben meiner Mutter ausgesehen haben musste. Es war unbegreiflich, dass ich mich gegen alle meine Vorsätze wehrte, mich gegen Regel sträubte. Es machte mir absolut gar nicht aus, doch vielleicht lag das auch an meinem mittlerweile dritten ... nein, vierten Drink.

Starker Alkohol schmeckte genauso scheußlich, wie ich es mir immer gedacht hatte. Er war bitter und brannte im Hals. Wenn man ihn aber möglichst schnell wegkippte, bevor man überhaupt über irgendetwas nachdachte, war ererträglich. Und nach vier Drinks war mit sowieso alles gleichgültiger.

„Was machst du hier?", hörte ich eine unbekannte Stimme von der Seite.

Ich wandte mich dem Jungen zu. „Ich mache gar nichts." Mein Konterspruch hatte es nicht gerade in sich gehabt, aber ich war auch nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Vielleicht würde er mich also einfach weiter trinken lassen.

„Du siehst nicht so aus, als würdest du von hier kommen." Er hatte dunkelbraune Haare, die ein wenig zu lang waren und ihm durch die natürlichen Wellen leicht in die Stirn fielen. Vor ihm stand ein Glas, welches er mit seiner linken Hand festhielt.

„Ich komme auch nicht von hier", erwiderte ich genervt. Er war der Erste gewesen, der mich angesprochen hatte. Nicht einmal der Barkeeper hatte irgendetwas zu mir gesagt. Vielleicht lag das auch daran, dass er ständig mit den anderen neben mir sprach. Sie lallten schrecklich, doch hatten anscheinend kein Interesse daran, nach Hause zu gehen. Wir hatten definitiv etwas gemeinsam.

„Du solltest nach Hause gehen." Der Junge schaute von seinem Glas auf. Ich sah ihn skeptisch an, aber durch den Alkohol wirkte mein Blick wohl nicht ganz so einschüchternd auf ihn. Er hatte die blauesten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren nicht so wässrig blau, sondern meerblau; unglaublich blau.

Ich schüttelte meinen Kopf. Hatte ich gerade wirklich über die Augen dieses Jungen nachgedacht? Ich musterte ihn. Er trug ein einfaches, schwarzes T-Shirt und eine schwarze, enganliegende Jeans. Liam hätte so etwas niemals angezogen. Und er wäre niemals mit so struppigen Haaren aus dem Haus gegangen.

„Komm jetzt." Der Junge griff nach meinem Arm. Ich versuchte, mich zu wehren, doch das ging schief. Auf dem Barhocker hatte ich mich gut halten können, aber ohne jegliche Stütze, drohte ich einfach umzukippen. Mir war furchtbar schwindelig.

„Nein, ich kann nicht ..,", brachte ich noch hervor, als der Junge mich stützte, um mich zur Tür zu begleiten. Es regte mich tierisch auf, dass er sich verhielt, als wäre er der Türsteher dieser Kneipe. Dabei wusste jeder hier, wie heruntergekommen die Gegend war. Hier gab es keine Security oder Türsteher. Außerdem hatte dieser Junge kein Recht dazu, mich anzufassen. Er war nicht Liam oder meine Familie. Aber das konnte ich in diesem Zustand niemandem erklären. Ich war mir ja nicht einmal mehr sicher, wie mein Name eigentlich lautete.

„Ich kann nicht ...", wiederholte ich.

„Ich weiß, dass du nicht richtig gehen kannst." Der Junge verkniff sich ein Lachen. Ich griff nach der Türklinke, die bereits in greifbarer Nähe war. Es fühlte sich total blöd an, sich nicht mehr selbst unter Kontrolle zu haben. Und es war auch noch meine eigene Schuld. Was sollte ich jetzt tun?

„Wehr dich nicht, sonst kann ich dich nicht halten", sagte der Junge ernst. Er war sowieso stärker als ich. Es kostete ihn nicht viel Kraft, mich zu stützen, und ich fragte mich, weshalb er sich um mich kümmerte. Wobei man es auch nicht wirklich kümmern nennen konnte. Er sorgte nur dafür, dass die Bar frei wurde. Sogar hier war ich zu viel. Dabei hatte meine Mutter hier gelebt. Würde es etwas ändern, würden die Menschen an diesem Ort wissen, dass ich keine komplett Fremde war? Vermutlich nicht. Fremd blieb fremd.

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