Kapitel 30

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Ein fester Druck ließ mich aus dem Schlaf hochschrecken. Ich realisierte nicht sofort, was los war. Etwas verwirrt wandte ich mich Chris zu, der mich an meinem Handgelenk gepackt hatte. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Arm. Mir traten Tränen in die Augen, ich beugte mich vor und begann Chris mit meiner freien Hand sanft an der Schulter wach zu rütteln.

Plötzlich fuhr er hoch, packte mich und ich keuchte vor Schreck auf. Mit seinen Händen umklammerte Chris fest meine Arme. Er griff mir grob in den Nacken, was mich total verschreckte. Immer wieder rüttelte ich an seiner Schulter, doch als Chris nicht reagierte, schrie ich ihn vollkommen verzweifelt an. Sein Arm zuckte, als könnte er ihn nicht kontrollieren.

„Chris!", rief ich aufgewühlt.

Die Panik verlieh mir Kraft und ich stieß den mittlerweile halb wachen, blinzelnden Chris zurück. Er lockerte sofort seinen Griff, ließ mich eilig los. Ich sprang von der Ausziehcouch herunter. In der Dunkelheit stieß ich mir dabei mein Knie an der spitzen Ecke des Couchtisches an. Ich keuchte vor Schmerz auf und hielt mir hektisch das Knie. Von Chris hörte ich bloß eine unruhige Atmung und das Rascheln der Bettdecke auf dem Sofa. Er kam langsam wieder zu sich.

Vorsichtig tastete ich mich wieder bis zur Couch vor. Die Nacht ließ alles schwarz wirken. Nur vereinzelte Schatten verrieten uns, dass die Sonne bereits bald wieder aufgehen würde.

„Avery?" Verzweiflung war aus Chris rauer Stimme herauszuhören.

„Ich bin hier", sagte ich leise. Er atmete erleichtert aus, doch ich spürte, dass die Anspannung immer noch da war.

Die Bettdecke raschelte. „Kannst du wieder herkommen?", fragte Chris hilflos.

Zuerst hielt mich die Angst zurück, aber dann arbeitete ich mich weiter vor. Irgendwann spürte ich einen Widerstand, der sich als Chris Bein entpuppte. Unsicher legte ich meine Hand auf der Bettdecke ab. Ich wollte Chris in der Dunkelheit nicht aus Versehen irgendwo berühren, wo es ihm vielleicht unangenehm sein könnte.

„Wie lange brauchst du denn?", hörte ich Chris flüstern.

Ich strich mir eine verlorene Haarsträhne aus dem Gesicht. „Bin da."

Soweit ich es in der Dunkelheit erfassen konnte, saß Chris aufrecht auf der Couch. Ich ertastete mit meiner rechten Hand seinen Oberkörper und sein vom Albtraum nass geschwitztes T-Shirt. Ein wenig unbeholfen zog ich Chris näher zu mir. Mein Herz raste und Chris' Nähe löste ein unkontrolliertes Kribbeln in mir aus.

„Danke, dass du da bist." Chris vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Chris ..." Ich legte meine Hände um seine und versuchte, seine Hände damit von seinem Gesicht zu lösen. Doch er wehrte sich und drückte mich abrupt weg. Es verwunderte mich, dass Chris mich anscheinend hier haben wollte, aber trotzdem andauernd wieder von sich stieß.

„Chris?" Nun versuchte ich es mit ein wenig mehr Kraft. „Bitte, rede mit mir."

Sanft strich ich über seine Haare. Sie waren so weich.

„Sieh mich an", flüsterte ich traurig. Beruhigend strich ich mit meiner Hand über seine Schulter. Mich machte es fertig, Chris so durch den Wind zu sehen. Er hatte sonst immer einen so sicheren, irgendwie selbstbewussten Eindruck gemacht. Vor allem, wenn er mit Damian zum Rauchen hinter der Sporthalle verschwunden war.

Wieder einmal musste ich daran denken, dass Chris und ich gar nicht zusammenpassten. Er war so anders als Liam. Er hatte viel mehr erlebt und löste seine Probleme anders, als Liam. Chris war eine tickende Zeitbombe, die ständig zu explodieren drohte. Er war erfüllt von Hass und Wut. Doch er war zeitgleich auch der liebevollste Mensch, dem ich jemals begegnet war. Ich vertraute Chris.

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