Kapitel 6

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Ich war mir sicher, ich würde mich nur auf meinen Heimweg konzentrieren. Nana wartete bestimmt schon mit dem Essen auf mich. Doch es war verdammt schwer, sich zu konzentrieren, wenn man wusste, dass jemand vor einem an der Ecke des Schulgebäudes lehnte. Und wenn dieser Jemand sich auch noch als Chris entpuppte, war alles vorbei. Ich atmete tief durch, denn ich wollte jeglichen Gesprächen aus dem Weg gehen. Vor allem, weil ich mich für diese dämlichen Lästereien von meinen Freunden vorhin schämte. Sie waren normalerweise nicht so fies. Eigentlich benahmen sie sich ganz anders. Zumindest meistens.

„Avery!" Chris stieß sich von der Hausecke ab. Er lief zielsicher auf mich zu und ich betete erneut dafür, dass er mich bloß wieder in Ruhe ließ. Aber das tat er nicht. Ein klitzekleiner Teil von mir war darüber sogar froh, weil ich Chris mochte. Doch das würde ich niemals zugeben. Ich wollte nicht mit ihm gesehen werden, um nicht auf der Angriffsfläche zu erscheinen. Dafür war ich nicht stark genug.

„Was gibt's?", fragte ich knapp. Chris verzog sein Gesicht, als hätte meine Aussage ihn wirklich schwer getroffen. Damit regte er sofort mein schlechtes Gewissen an und ich konnte einfach nicht anders, als stehen zu bleiben. Unterdessen durchbohrten mich seine tiefblauen Augen weiter. Ich vermied den direkten Blickkontakt.

„Ich wollte dich nur fragen, was du in unserem Viertel gemacht hast. Also außer-"

Da presste ich Chris meine Hand auf den Mund. „Nein", zischte ich.

„Ach, so ist das." Chris grinste frech, als ich meine Hand wieder wegnahm. „Deine Freunde wissen nichts davon."Ich zuckte nur gleichgültig mit meinen Schultern. Dabei hätte sogar ein Blinder gesehen, wie unwohl ich mich gerade fühlte.

„Meine Freunde würden niemals so etwas tun. Ich war einfach nur mies gelaunt und ich hätte es von vornherein lassen sollen. Also bitte, Chris, erzähl es niemandem weiter. Bitte", flüsterte ich. Sein Grinsen verschwand langsam.

„Mies gelaunt? Wirklich?" Chris wollte anscheinend nicht lockerlassen.

„Ich war wirklich nur mies gelaunt." Ich flehte Chris schon fast an, damit er aufhörte, Fragen zu stellen. Wäre ich jetzt weggegangen hätte er seine Fragen vermutlich noch über den gesamten Schulhof gebrüllt.

„Ich könnte deine Geschichte von der Nacht jedem hier erzählen", sagte Chris leise. Seine Miene veränderte sich schnell und ich spürte, wie in mir eine Mischung aus Hass, Wut und Traurigkeit entstand. Ich hatte nicht gedacht, dass Chris dazu in der Lage war, mich tatsächlich zu erpressen.

„Du bist ein noch größerer Idiot, als ich jemals gedacht hatte." Ich drehte mich abrupt um, damit ich endlich gehen konnte. Eine bittere Träne kullerte mir über die Wange. Womit hatte ich dieses Leben verdient? Ich war mir sicher, dass es nicht so schnell besser werden würde. Es war alles so schrecklich.

„Hey, warte." Chris hielt mich am Arm fest. Ich versuchte, seine Hand abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Ich kam nicht gegen ihn an.

„Es tut mir leid, ich wollte dich ärgern. Dafür, dass ich nichts weitererzähle, könntest du dich mit einem Treffen revanchieren. Du weißt, wo ich wohne." Chris schenkte mir sein unglaubliches Lächeln und er verzauberte mich damit erneut. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich konnte mich einfach nicht mehr wehren.

„Ich kenne dich doch kaum", entgegnete ich seufzend, denn sein Angebot kam mir nicht besonders ungefährlich vor.

„Ich bin Chris Harper, achtzehn Jahre alt. Ich halte nichts von diesen Gefühlsduseleien und ich lebe alleine in meiner Wohnung, die du ja bereits gesehen hast." Chris konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ach ja, ich helfe übrigens nicht jedem stockbesoffenen Mädchen. In meinem Bett hast bisher nur du geschlafen und ich hoffe, das bleibt auch so, Avery."

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