Epilog

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Es gab Tage in dem letzten halben Jahr, an denen hatte ich mich schrecklich einsam gefühlt. Ich hatte meine Familie verloren, etwas, das wir immer als unersetzlich vorgekommen war, und fand zugleich die Liebe meines Lebens.

Das Warten hatte unerträglich sein können und die Stille hatte ewig an mir genagt. Doch einige der Weisheiten, von denen Menschen erzählten, stimmten tatsächlich. Was uns nicht umgebracht hatte, hatte uns stärker gemacht.

Chris holte sein Abschlusszeugnis einige Wochen nach Anabels Beerdigung ab und meldete sich bei einer Universität an. Er bestand darauf, die Gebühren seines Studiums ebenso wie die Schulgebühren aus eigener Tasche zu zahlen. Sein Stolz war zu groß, um endlich das Angebot seines Vaters anzunehmen. Ich versuchte nicht, ihn zu überreden. Auch, wenn es mir lieber gewesen wäre, Chris hätte seinen alten Job an den Nagel gehängt und etwas weniger Gefährliches gemacht. Zum Glück bot sich bald darauf eine neue Chance für einen anderen, legalen Job, wo Chris freudestrahlend zu griff, ohne dass es ernste Gespräche hätte geben müssen.

Martin und Lianne heirateten am vierzehnten Juli. Lianne lehnte den Nachnamen „Harper" ab. Sie empfand es nicht als richtig, denselben Namen wie Chris' Mutter zu tragen. Das hatte sie kurz nach Anabels Beerdigung beschlossen undich war mir ziemlich sicher, der Sinneswandel kam daher, dass Lianne Chris' Zusammenbruch gesehen hatte. Chris vermutete übrigens, seine Stiefmutter wollte bloß dem „Harper-Fluch" entkommen. Ich hielt das zuerst für einen Witz, aber ein wenig Wahrheit steckte trotzdem in Chris' Worten.

Mein Vater akzeptierte Chris schnell. Meine Mutter vermied es anfangs, Chris einzuladen, oder auch nur anzusehen. Sie war verunsichert, erzählte sie einmal, doch ich glaubte ihr kein Wort. Die eigenen Vorurteile zu überwinden bedeutete, sich einzugestehen, dass auch man selbst nicht frei von Fehlern war. Das war etwas, was meine Mutter noch nicht konnte. Sie war nicht dazu imstande, ihre Ansichten zu verändern. Demnach gab es kein nettes Kaffeetrinken bei uns zu Hause. Wenn meine Eltern allerdings unterwegs waren, backten Chris, Mia und ich die fettesten Pizzen. Wir aßen manchmal wie Schweine, während uns der Käse in Fäden aus den Mündern hing. Es machte uns Spaß und Chris begeisterte Mia immer wieder aufs Neue mit seinen verrückten Ideen.

Meine kleine Schwester liebte Chris. Er war derjenige, der sie ermutigte, sich bei ihrer Tanzschule für Hip-Hopanzumelden. Als meine Mutter das mitbekam, platzte ihr fast der Kragen. Der Gedanke an eine kleine Tochter, die nicht als Primaballerina elegante Pirouetten tanzte, verursachte ihr Kopfzerbrechen. Mein Vater beruhigte seine Frau schnell. Denn Mia hörte nicht mit dem Ballett auf. Sie übte für neue Auftritte, in der Hoffnung, eines Tages ein Stipendium für eine renommierte Tanzschule zu ergattern.

Meine Großmutter unterstützte uns. Bei ihr durfte Chris sogar übernachten. Wir gingen allerdings nie darauf ein, weil uns der Gedanke störte, beim Frühstückstisch neugierig beäugt zu werden. Und meine Nana beherrschte sämtliche Blicke perfekt, die mir sogleich das Blut in den Kopf schießen ließen.

Meine Freunde traf ich noch ein paar Male. Als sich der Sommer dem Ende zuneigte, trennten sich jedoch unsere Wege.

Chloe hatte sich bei einer bekannten Universität beworben. Dort wollte sie endlich das studieren, was ihr schon immer am meisten Spaß gemacht hatte: Journalismus. In ihren Träumen sah sie sich bereits mit Kamera und Laptop durch die Welt reisen, um die verschiedensten Schnappschüsse zu machen. Chloe wollte Prominente treffen, in die Tasten hauen und ihre Artikel mit einem ungeheuren Elan und viel Skepsis schreiben, wie die Chefredakteurin sie am liebsten las.

Josie verabschiedete sich gleich nach ihrem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik ins Ausland. Sie war das Leben hier leid gewesen und nach der Trennung ihrer Eltern, hatte es auch keinen Druck mehr von zu Hause gegeben. Vermutlich hatte sich Josie das erste Mal in ihrem Leben wirklich frei gefühlt, als sie endlich von hier abgehauen war.

Ab und zu bekamen wir noch Briefe von Josie aus dem Ausland. Meistens waren diese an mich adressiert und in einer wunderschön geschwungenen Handschrift geschrieben. Dort, wo Josie jetzt war, konnte sie sein, wie sie war. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Sie schrieb auch immer öfter von einem ganz tollen Job, der sie in schwierigen Zeiten wieder aufmunterte und einem Psychotherapeuten, der ihr half, ihr Verhalten und Denken zu reflektieren. Nichts auf der Welt schien Josie noch einmal dermaßen aus der Fassung bringen zu können, sodass sich die Szene am Pool eventuell wiederholen könnte. Denn, wie Josie einmal ganz weise anmerkte, war der Tod kein für sie möglicher Weg, sondern das Ende all der Wege, die sie hätte gehen können.

Laura Robins studierte an derselben Universität wie Chloe. Mit Josie und ihr war nach dem Selbstmordversuch für immer Schluss gewesen.

Liam studierte Mathematik. Er hielt sich immer noch strikt an Zeitpläne und Regeln. Was Liam tat, war voraussehbar. Doch er war glücklich mit seiner Welt und ich wusste, ich konnte mich jederzeit – nach Plan – auf ihn verlassen. Zusammensein würden wir niemals wieder. Reflektiert, wie Liam war, hatte er seine Fehler bereits wenige Wochen nach dem Schulabschluss eingesehen. Seine Augen funkelten noch immer, wenn er mich sah, behauptete Chloe einmal. Ich war mir sicher, die Fantasie ging bloß mit ihr durch.

Emma hatte die Schule als einzige nicht hinter sich gelassen. Ihr großer Traum war einst gewesen, die Welt zu bereisen. Doch mittlerweile wohnte sie in einer Großstadt, in immer noch demselben Land, wo sie Lehramt studierte. Damit würden wir sie vermutlich immer aufziehen. Jedes Mal lachte Emma bloß über unsere Abneigung zur Schule. Sie wollte den Schülern ehrliche Werte vermitteln, wollte ihnen zeigen, wie grausam und oberflächlich Menschen mit ihren Vorurteilen sein konnten und, das Worte Menschen so sehr verletzen konnten, dass es deren Leben für immer veränderte.

Unsere Freundschaft wurde mit jedem Tag besser. Wir schrieben uns Nachrichten und berichteten von unserem Alltag. Es gab nichts, was Emma und ich von nun an nicht hätten besprechen können. Wir waren schamlos ehrlich zueinander und ich begann, zu erkennen, wie viel unser gutes Verhältnis wert war. Das würde ich durch keine Lüge der Welt wieder zerstören.

Steph begegnete ich nur noch ein Mal. Sie schien ihre Vorliebe für böse Jungs überwunden zu haben. Mittlerweile war sie in einer Beziehung mit einem drei Jahre älteren Mann namens Mike Larsson. Er war nicht der Sohn unserer ehemaligen Mathelehrerin, obwohl wir das aufgrund seines Nachnamens zuerst vermutet hatten.

Damian Rodriguez hatte keiner von uns je wiedergesehen. Unsere Trauer deswegen hielt sich in Grenzen, doch noch einige Abende später hatten wir uns gefragt, was Damian wohl mit seinem Leben anfangen würde. Er hatte niemals genug von sich preisgegeben, als dass ihm jemand hätte helfen oder sich mit ihm anfreunden können. Dazu hatte Chloe mal einen ziemlich guten Spruch gesagt, an den ich mich kaum noch erinnern konnte. Vielleicht würde Damian ja den zugehörigen Artikel irgendwann in einer Zeitschrift lesen. Ich würde es jedenfalls tun.

So verging die Zeit. Alte Gewohnheiten begleiteten uns an düsteren Tagen, neue Erfahrungen veränderten uns. Chris machte sich für seinen Umzug in die Großstadt bereit. Er hörte auf, vor dem Leben davonzulaufen und ich ließ ihn gehen. Die Distanz zwischen uns schmerzte, aber sie half uns, uns auf neue Wege zu konzentrieren und uns auszuprobieren, um herauszufinden, wer wir waren und wer wir sein wollten.

Nach meinem freiwilligen sozialen Jahr in einer psychiatrischen Klinik zog ich zu Chris in die Großstadt und meldete mich dort für das Psychologiestudium an derselben Universität an, wo auch er studierte. Wir starteten einen neuen Versuch als Paar, schmiedeten Zukunftspläne und ließen noch so einige Pancakes anbrennen.

Die Erinnerungen hielten die letzten Jahre am Leben. Auch, wenn sie irgendwann kleiner und unwichtiger schienen, waren sie noch immer da. Wir waren dankbar für das Erlebte, neue Freundschaften und Chancen. Ja, ich würde sogar behaupten wollen, dass wir das Beste aus diesen Erinnerungen machten. Wir gingen mutig vorwärts, nahmen Rückschläge nicht allzu ernst ...

Und ehe wir uns versahen, da standen wir bereits mitten im Leben.

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