Kapitel 5

9K 352 73
                                    

Seine tiefblauen Augen verfolgten mich noch die Straße hinunter. Ich brauchte mich nicht noch einmal umdrehen, denn mir war klar, er würde immer noch an derselben Stelle stehen. Es verwirrte mich, brachte mich durcheinander, diesen eigentlich fremden Jungen, den ich nicht mögen wollte, zu mögen.

Chris wirkte düster. Düster und unberechenbar. Er war anders als meine Freunde. Das war es, was mich faszinierte. Vielleicht auch viel mehr als nur das. Aber ich war nicht bereit dazu, neue Freunde zu finden. Ich brauchte niemanden mehr. Nur noch mich selbst und eine Kopfschmerztablette. Bestimmt stank ich bestialisch nach Alkohol und diesem typischen Kneipengeruch. Chris hatte das nichts ausgemacht. Er hatte mich behandelt, als wäre nichts gewesen. Und ich wusste nicht, ob mich das störte oder ob ich mich darüber freute. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.

Je länger ich lief, desto städtischer und gepflegter sahen die Häuser aus. Es gab auf meinem Weg sogar einen Park, der sauber und ordentlich aussah. Der Rasen war frisch gemäht und die Blumen blühten in den wunderschönsten Farben.

Ich lief zu einer der Parkbänke. Für mich war das Gefühl, nicht dazuzugehören neu. Die gesamte Situation war Neuland für mich. Meine Familie war ja gar nicht mehr meine Familie. Meine Mutter war tot. Es existierten nur noch meine Mum und mein Dad, die mich belogen hatten. Dabei waren sie es doch gewesen, die immer gesagt hatten, wie schrecklich Lügen waren. Wie sollte ich ihnen jemals wieder vertrauen?

Die Parkbank stand nun direkt vor mir, aber ich entschied mich dagegen, mir eine kleine Pause zu gönnen. Ich hatte das Bedürfnis mit jemandem zu reden, der meine Gedanken nachvollziehen konnte. Da fiel mir nur eine Person ein: Nana. Sie war zwar mittlerweile alt geworden, doch die Sorgen einer Jugendlichen verstand sie immer noch am allerbesten. Besser als Mum, Dad, Mia oder Liam. Meine Nana war der beste Ratgeber, die beste Freundin und die Seelsorge zugleich. Sie kannte immer einen Ausweg. Auf Nana war Verlass. Selbst in diesem Moment, wenn ich nach Alkohol stank, wusste ich, sie würde niemandem etwas darüber erzählen.

Also machte ich mich auf den Weg zu meiner Nana. Ich fühlte mich so alleingelassen wie noch nie. Wahrscheinlich suchten Mum und Dad schon längst nach mir, aber der böse Teufel auf meiner Schulter sagte mir immer wieder, dass sie wohl kaum nach ihrer Adoptivtochter suchen würden. Ich gehörte immerhin nicht wirklich zu dieser Familie. Das tat weh. So sehr, dass ich das Gefühl hatte, in der Mitte meines Körpers auseinanderzureißen. Diese Gedanken zu stoppen, war schlicht unmöglich.

„Oh Avery!" Nana zog mich sofort in ihre Arme. Sie rümpfte kein einziges Mal ihre Nase, obwohl ich wusste, wie sehr ich stank. Stattdessen zog sie mich sofort ins Haus und öffnete die Tür zum Badezimmer. Handtücher legte sie mir auf die kleine Kommode. Nana meinte, ich sollte erstmal duschen, bevor wir über irgendetwas reden würden. Ich war sofort einverstanden.

Als ich die Badezimmertür hinter mir schloss, schaute ich an mir herunter. Ich trug meine eigenen Sachen, die Chris über Nacht zum Trocknen über die Heizung gehangen hatte. Doch unter meiner Jacke, über meinem lockeren Shirt, da hatte ich immer noch diesen schwarzen Pullover von Chris an.

Ich duschte mich, wusch meine Haare und wickelte mir schließlich ein Handtuch um. Meine Haare hingen mir in nassen Strähnen ins Gesicht. Nachdem ich meine Haare zurückgebunden hatte, zog ich mir die sauberen Sachen an, die Nana mir hingelegt hatte. Mia und ich hatten immer für Notfälle ein paar Kleidungsstücke bei unserer Großmutter. So war das in dieser Familie. Sie waren immer auf alles vorbereitet.

Andächtig faltete ich den Pullover von Chris. Ich atmete tief ein, als mir bewusst wurde, dass ich Chris wiedersehen musste, wenn ich ihm seinen Pullover zurückgeben wollte.

„Nana?", rief ich, als ich das Badezimmer verließ. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Glas mit kühlem Wasser. Daneben lag eine Kopfschmerztablette. Nana dachte immer an alles und ich schluckte die Tablette ohne jegliches Misstrauen.

LügennetzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt