Kapitel 28

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Vollkommen übermüdet betrat ich das Krankenhaus. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu Chris, der mich letzte Nacht eiskalt abserviert hatte. Zugegeben war es mir anschließend echt schwergefallen, normal einzuschlafen. Ich hatte mich im Bett herumgewälzt, wach gelegen und ewig nicht realisieren können, was geschehen war. Und als ich es endlich realisiert hatte, hatte ich einfach nur stumm geweint.

Es war niemals einfach gewesen für Chris und mich. Uns hatte alles im Weg gestanden, was einem nur im Weg stehen konnte. Doch ich hatte mich für ihn entschieden, mich in ihn verliebt und er hatte mir das Herz in tausende Teile zerbrochen.

Vermutlich hätte mir meine Mutter gesagt, dieser Herzschmerz wäre vorhersehbar gewesen. Dieses schmerzhafte Ziehen, dieser stechende Schmerz in meinem Herzen erinnerte mich nur immer wieder an die Zeit, die ich mit Chris verbracht hatte. Es fühlte sich an, als könnte ich nie mehr glücklich sein. Doch ich riss mich irgendwie zusammen, versuchte, mir die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Jetzt ging es nicht um mich, sondern um meine beste Freundin Josie.

Die Tür zum Patientenzimmer schlug auf. Chloe spazierte herein. Kritisch beäugte Steph den Raum, der steril vor ihr lag. Emma hielt einen wunderschönen Blumenstrauß im Arm. Sie klammerte sich an den Blumen fest, als könnten sie diese retten.

„Hey, Josie." Ich schloss die Tür hinter mir und lief direkt zum Krankenbett. Josie lächelte mich schwach an. Ihre Augen waren von dunklen Schatten umrandet. Sie wirkte allerdings gar nicht so unglücklich, wie ich es erwartet hatte.

„Warum hast du denn nichts gesagt?", fragte Chloe.

„Es wird wieder besser werden", seufzte Emma.

„Ich verstehe ja, dass das letzte Schuljahr echt anstrengend sein kann. Sich in den Pool zu stürzen, ist aber keine Lösung!" Steph verschränkte demonstrativ ihre Arme vor der Brust. Geschockt sah ich meine beste Freundin an.

„Es gibt Hungersnot und so viele Dinge, die tausendmal schlimmer sind, als meine Probleme", flüsterte Josie mit zittriger Stimme. „Und als ihr mich aus dem Pool gezogen habt, da dachte ich trotzdem: Scheiße, es hat nicht geklappt. Jetzt weiß es jeder."

Josie fuhr leise fort: „Wisst ihr eigentlich, wie ich mich gefühlt habe? Jedes Mal, wenn ich einen Abgrund gesehen habe, wollte ich diesen letzten Schritt vorwärts gehen. Immer dann, wenn ein Zug in den Bahnhof eingefahren ist, habe ich mich gefragt, wie es wäre, sich davor zu schmeißen." Josie schüttelte ihren Kopf. „Meine Eltern haben nur noch von meinen Noten geredet. Sie haben Erwartungen an mich, die ich niemals erfüllen kann! Ich kann nicht die brave Tochter sein. Erst recht nicht, wenn ich die einzige bin, die weiß, dass mein Vater gar nicht auf einer seiner dämlichen Geschäftsreisen ist! Eigentlich vögelt er bloß seine beschissene Assistentin ..."

„Rede doch einfach mit ihnen!" Vorwurfsvoll sah Steph Josie an. „Kann ja wohl nicht so schwierig sein!"

Ich hob abwehrend meine Hände. „Stopp!"

Mich überforderte die Situation. Ich wollte helfen, aber fühlte mich wie gelähmt. Es war schwer zu realisieren, was geschehen war. Doch irgendwie mussten wir mit dieser Tatsache leben. Es war unumkehrbar. Und Gefühle ließen sich nicht wegdiskutieren. Davon hätte ich selbst ein Lied singen können.

„Lasst ihr uns kurz allein?", fragte ich meine Freundinnen. Emma nickte sofort und schob Steph zur Tür. Chloe zuckte gleichgültig die Schultern. Ein wenig betroffen verließen die drei das Zimmer.

Für einige Minuten war es unzumutbar still. Ich lauschte unserer Atmung und den Stimmen auf dem Flur. Ich war dankbar dafür, dass Josie nichts sagte und diesen Moment einfach auf sich wirken ließ. Steph hatte eindeutig zu viel geredet.

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