Kapitel 23

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Die Zimmertür knallte laut, sodass ich erschrocken zusammenzuckte. Anabel lehnte sich wieder zurück. Schlapp ließ sie ihren Kopf hängen. Martin stützte sie sofort, während Lianne ihren Kopf müde in den Handflächen vergrub.

„Entschuldigung." Ich machte eine Geste in Richtung der Tür. „Er hat es bestimmt nicht so gemeint."

„Doch, das hat er", sagte Martin traurig. Er ließ seine Schultern hängen und ich fühlte mich schrecklich, weil ich nicht wusste, wie ich helfen konnte.

„Ich gehe Chris suchen", verkündete ich festentschlossen.

Martin schüttelte eilig seinen Kopf, aber Anabel, so sehr die Krankheit sie auch mitnahm, lächelte mir aufmunternd zu. Sie schloss erschöpft die Augen. Ihre Wangen waren eingefallen und ich fragte mich erneut, wie lange sie wohl schon gegen diese Krankheit kämpfte. Chris musste in den letzten Jahren unglaublich viel durchgemacht haben. Warum hatte das scheinbar keiner an unserer Schule mitbekommen? Waren wir Menschen wirklich so oberflächlich?

Ich drehte mich um und lief auf die Zimmertür zu. Auf dem Flur war Chris nicht. Also lief ich so schnell, wie ich konnte, zu den Aufzügen. Natürlich waren diese genau in dem Moment besetzt. Genervt stöhnte ich auf. Dann rannte ich ins Treppenhaus. Meine Beine überschlugen sich fast und ich schaffte es in der Eile gerade noch, die letzten Stufen der Treppe hinunterzuspringen.

Außer Atem tobte ich durch die Eingangshalle. Einige Krankenschwestern warfen mir verwirrte Blicke zu, die ich gekonnt ignorierte. Und dann kam ich auch schon draußen vor dem Krankenhaus an. Doch Chris war weit und breit nicht zu sehen. Fluchend lief ich bis zum Parkplatz weiter. Die Sonne blendete mich, als ich meinen Blick über die zahlreichen Autos schweifen ließ.

„Was machst du denn hier?", hörte ich jemanden hinter mir fragen. Ich wirbelte herum. Mir fiel augenblicklich ein Stein vom Herzen, als ich in diese fesselnden, tiefblauen Augen sah. Es fühlte sich plötzlich alles so surreal an und ich musste eine Minute innehalten, um zu begreifen, was mit mir geschah.

Chris strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde, in der ich ihn ansah. Hätte ich behauptet, mein Herz hätte in diesem Moment gerast, wäre das die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Meine Knie drohten zu schmelzen, so weich waren sie bereits geworden.

„Ich wollte dich suchen", antwortete ich nach einiger Zeit.

Chris runzelte seine Stirn. „Du hättest mich nicht suchen brauchen. Wärst du bei den anderen geblieben, dann müsstest du dich jetzt nicht mit meinen Verwirrungen und alldem herumschlagen." Ich schluckte schwer. Warum dachte Chris nur immer das Schlechteste von sich selbst?

„Also hättest du es besser gefunden, wenn ich einfach oben bei deinen Eltern geblieben wäre?", wollte ich wissen. Ich schaffte es nicht, dass sich meine Frage unbeteiligt anhörte. Sie hörte sich viel zu emotional an.

„Nein." Chris Antwort war klar und deutlich. „Nein, natürlich nicht."

„Dann freu dich bitte darüber, dass ich hierhergekommen bin", meinte ich verlegen lächelnd. Die Wut und die bittere Trauer verschwanden allmählich aus Chris Gesicht. Seine glasigen, geröteten Augen blieben.

„Du hast keine Ahnung", sagte Chris plötzlich mit erstickender Stimme. Er fuhr sich durch seine Haare und ich konnte wieder diesen wilden Ausdruck in seinem Gesicht erkennen.

„Wovon habe ich keine Ahnung?" Ich wandte mich nicht ab. Ich wollte wissen, was Chris mit seiner Andeutung gemeint hatte.

„Du hast keine Ahnung davon, wie sehr ich dich brauche, Avery. Ich habe schon vor dir Mädchen getroffen und ich weiß, welchen Einfluss ich auf sie habe. Aber mit dir ist es etwas ganz anderes." Chris Worte hallten in meinen Ohren wider. „Und ich weiß, ich werde dich niemals verdienen. Du bist freundlich, ausgeglichen und hilfsbereit. Ich bin das alles nicht und tue dir bestimmt auch alles andere als gut."

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