Kapitel 38

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Als wir unten vor dem Haus standen, in dem Chris seine Wohnung hatte, zündete er sich eine Zigarette an. Mir ging das gewaltig gegen den Strich, aber ich verkniff mir einen Kommentar, weil ich mich endlich auf Emma konzentrieren wollte. Was war gestern Abend los gewesen? Hatte ich mich richtig entschieden?

„Du warst echt enttäuscht gestern Nacht, oder?" Chris brach das Schweigen. Ich musterte ihn nachdenklich. Er trug wieder seine alte Lederjacke und die schwarze Jeans, die ich so gerne an ihm mochte.

„Ich war enttäuscht, ja. Das bin ich jetzt nicht mehr", antwortete ich.

Die Straßen dieses Viertels erinnerten mich an ein Schlachtfeld. Unter meinen Schuhsohlen knackste Glas. Ich blickte zu Boden und sah, wie es in tausende kleine Splitter zerbrach. Wäre ich jemals glücklich geworden, wenn ich bei meiner leiblichen Mutter aufgewachsen wäre? Hätte ich Chris jemals kennengelernt? Würde ich jetzt selbst drogenabhängig sein, weil ich es nie anders gelernt hatte?

Vielleicht war es genau das Richtige, dass ich nicht bei meiner biologischen Mutter geblieben war. Vielleicht hatten meine Mum und mein Dad genau das Richtige getan und mich beschützt, vor diesem dreckigen Leben, dem sicheren Absturz bewahrt.

Es fiel mir schwer, so schlecht über dieses Viertel zu denken. Chris hatte keine andere Wahl gehabt. Er war auch noch längst nicht so abgestürzt wie meine leibliche Mutter. Sie war an diesem Leben gestorben.

Chris war anders als diese Leute, vor denen so viele Menschen große Angst hatten. Ich verbot mir, ihn direkt mit diesem Viertel in Verbindung zu setzen. War er nicht noch viel mehr, als bloß ein Junge aus einem schlechten Stadtviertel? Oder redete mich mir sein Leben schön, weil ich ihn liebte?

Chris blies mir den Zigarettenrauch entgegen. Ich kniff meine Augen zusammen und zwang mich dazu, den stinkenden Rauch nicht einzuatmen.

„Das, was du hier betreibst, ist Selbstmord auf Raten." Ich deutete auf die Kippe in seiner Hand. Chris warf diese auf den nassen Asphalt, wo sie aufhörte zu glimmen.

„Ich sterbe nicht von dieser einen-"

„Du stirbst, wenn du über Jahre so weiterlebst", unterbrach ich ihn.

Chris legte einen Arm um mich. „So alt will ich gar nicht werden."

In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Alles verschwamm für einen Augenblick, bis ich mich niedergeschlagen gegen Chris lehnte. Mein Herz schlug wie wild. Ich durfte Chris nicht verlieren. Ich durfte nicht zulassen, dass er sein Leben wegwarf.

„Dir ist alles egal, oder?", flüsterte ich. Irgendwie hoffte ich, dass er meine Frage einfach überging, vielleicht für diesen Moment weghörte, aber das tat er nicht.

„Du bist mir nicht egal." Chris blieb stehen, um mich ansehen zu können. Er runzelte seine Stirn und betrachtete ich mich so nachdenklich, dass ich nicht anders konnte, als ihn einfach in meine Arme zu schließen.

Mein Herz pochte unkontrolliert und mein Puls stieg in schwindelerregende Höhen. Ich lehnte mich gegen Chris, während ich ihn mit meinen Armen fest an mich drückte.

„Hey, was ist mit dir?", murmelte Chris. „Ist alles in Ordnung?"

„Ja, klar." Ich hoffte, dass er mich niemals loslassen würde.

Sanft befreite sich Chris aus meinen Armen. „Du klammerst dich fest, wie ein kleiner Affe", stellte er breit lächelnd fest. Ich blinzelte ein paar Tränen weg, die urplötzlich in mir aufstiegen.

„Bist du dir sicher, dass alles okay ist?" Chris strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vorsichtig hob er mein Kinn an und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Ich schmeckte den Rauch und doch störte es mich nicht. Heute war alles anders und hätte ich ihm sonst diesen Kuss verweigert, so wollte ich ihn jetzt umso mehr. Ich wollte nichts sehnlicher, als diese Erfahrungen mit Chris zu teilen.

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