Kapitel 25

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Nachdem ich Chris an der Hauptstraße aus den Augen verloren hatte, wusste ich nicht mehr, wo ich hingehen sollte. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich ihn unbeabsichtigt enttäuscht hatte. Oder viel eher hatte Liam Chris enttäuscht. Seine Worte waren hart gewesen und mir wurde langsam immer bewusster, dass Liam mich anscheinend die gesamte Zeit über nicht richtig verstanden hatte.

Ich lief geradeaus weiter. Meine Gedanken kreisten bloß noch um Chris. Er hatte sich mir gegenüber geöffnet. Ich hatte seine Familie kennengelernt. Wir hatten Zeit zusammen verbracht, die mir verdammt viel bedeutet hatte.

Das Haus meiner Nana tauchte vor mir auf. Es war so still hier. Kein Nachbar fuhr mit seinem Rasenmäher durch die Gegend, keine Nachbarin wühlte in der kalten Erde, um das Unkraut aus einem ihrer Beete zu verbannen. Niemand redete. Und trotzdem war mir alles zu viel. Die Sorgen darum, wo Chris hingegangen war, brachten mich fast um den Verstand. Meine Freundinnen waren sauer auf mich, meinen besten Freund, meinen Ex, wollte ich am liebsten nie wiedersehen.

Jetzt wusste ich also, wie es sich anfühlte, einsam zu sein. Dieses Gefühl saugte mir das Leben aus den Adern. Es ließ mich verzweifeln. Ich hätte schreien und um mich schlagen können, doch es hätte mir auch nicht gebracht. Alles erschien mir so schrecklich sinnlos. Die Stille in mir war zu laut, der Schmerz in meiner linken Brust, die Ungewissheit, zerrissen mich.

Selbst gegen Abend wurde es nicht besser. Ich starrte bloß die Wand an und genoss die allmählich aufkommende Dämmerung. Vielleicht würde mir die Nacht helfen. Vielleicht würde sich mein Körper morgen früh nicht mehr ganz so schwach anfühlen.

Plopp. „Mist."

Ich wischte mir über die Augen. Hatte ich das gerade wirklich gehört?

Zögerlich setzte ich mich in meinem Bett auf. Mein Kopf schmerzte und als ich schnell aufstand, wurde mir kurz schwarz vor Augen. Ich atmete tief ein, öffnete meine Augen und zog die Gardine zur Seite. Der Bewegungsmelder vor der Garage meiner Großmutter war an. Mein Herz machte einen Satz.

Leise schlich ich mich durch den Flur bis zur Haustür. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und achtete darauf, dass dies möglichst lautlos geschah.

„Chris?", flüsterte ich instinktiv in die Dämmerung hinaus.

„Ich wollte dir einen Stein ans Fenster werfen, aber ich wusste nicht, wo dein Fenster ist und dann habe ich nichtmal getroffen." Chris tauchte aus dem Schatten der Garage auf. Als das Licht auf sein Gesicht fiel, stockte mir der Atem.

Mein Herz setzte eine Sekunde aus. „Was hast du getan?!", war das Einzige, was ich über meine Lippen brachte. Chris taumelte kurz und ich stolperte sofort zu ihm hin, um ihm zu helfen. Ich roch den Geruch von Blut und Alkohol, doch zu meinem Erstaunen ekelte es mich nicht an.

„Komm mit, wir gehen rein", sagte ich spontan. Ich war erschrocken über mich selbst, denn eigentlich war es nicht meine Art, einfach jemanden mit zu meiner Nana ins Haus zu nehmen. Doch ich konnte nicht zulassen, dass Chris heute Nacht durch die Straßen irrte. Und so brach ich lieber meine eigenen Regeln.

„Ich will nicht", lallte Chris. Er wehrte sich allerdings nicht gegen meinen Arm, den ich ihm stützend um den Körper gelegt hatte.

Ich schloss die Haustür hinter uns. Danach schob ich Chris eilig in mein Zimmer. Ein letztes Mal schaute ich mich auf dem Flur noch um, bevor ich meine Zimmertür ebenfalls zudrückte.

„Was ist passiert?" Ich beobachtete Chris dabei, wie er sich auf mein Bett fallen ließ. In seinen Augen konnte ich zwar Erleichterung erkennen, doch die verflog ziemlich schnell wieder. Ich trat näher, um mir die Wunden in seinem Gesicht anzusehen. Irgendwie musste ich ihn verarzten. Aber wie, ohne meine Nana zu wecken, weil ich auf der Suche nach Verbandszeug quer durchs gesamte Haus laufen musste?

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