Kapitel 26

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Die Vögel zwitscherten fröhlich, als ich mich auf der Terrasse meiner Nana in einen Sessel fallen ließ. Nachdenklich fuhr ich die Linien des karierten Kissenbezuges nach. Als meine Eltern hier gestern im Wohnzimmer gesessen hatten, hatten sich meine familiären Sorgen der letzten Monate einfach in Luft aufgelöst. Und als sie wieder gegangen waren, hatte ich mir bereits die nächsten Gedanken gemacht. Wie sollte ich meinen Eltern sagen, dass ich mich in einen Jungen aus dem anderen Viertel verliebt hatte?

Meine Mum würde vermutlich ausrasten. Selbst das wäre noch übertrieben. Mein Dad würde sich ihr schweigend anschließen. Oder Dad würde Chris seltsame Fragen stellen, die er nicht richtig beantworten konnte. Fangfragen!

„Egal, wie ich es hindrehe, es ist trotzdem aussichtslos", seufzte ich. Meine Freundinnen waren immer noch sauer auf mich und ziemlich verwirrt. Tja, ich konnte nicht genau sagen, ob sie nicht auch traurig darüber waren, wie ich sie belogen hatte. Doch anfangs hatten sich diese kleinen Lügen gar nicht so schlimm angefühlt. Es war angenehmer gewesen, nicht über die Wahrheit reden zu müssen. Jedenfalls bis aus einer Lüge ein regelrechtes Lügennetz geworden war ...

„Denkst du über das nach, was gestern passiert ist?" Nana setzte sich in den Sessel neben mir.

„Unter anderem", gab ich zu. Sie nickte verständnisvoll.

„Deine Eltern haben mir Fragen gestellt." Nana stützte ihren Kopf ab. „Fragen, auf die ich nichts zu antworten wusste."

Ich schloss müde meine Augen. „Schieß los", murmelte ich.

„Weshalb hast du diesen Jungen mit nach Hause gebracht?" Meine Oma stellte raffinierte Fragen, denen man nicht ausweichen konnte. Und ich war absolut bereit dazu, alles aufzuklären. Denn in den letzten Stunden, nachdem Chris weggegangen war, hatten sich meine Gedanken nur um ihn gedreht. Ich wollte mit ihm zusammen sein. Ich war festentschlossen, morgen Abend wie verabredet zu ihm in die Wohnung zu kommen und für das zu kämpfen, was sich zwischen uns entwickelt hatte.

„Du hast gesehen, er war verletzt. Ich konnte ihn nicht einfach nach Hause gehen lassen", erklärte ich

„Wohin ist er denn so schnell verschwunden, als es brenzlig wurde?" Nana verkniff sich ein Lächeln. Sie hatte sich doch bereits alles zusammengereimt.

„Er ist durchs Fenster rausgeklettert", erwiderte ich kleinlaut.

„Also, um nochmal alles zusammenzufassen, was du mir erzählt hast..." Nana zupfte ihre Bluse zurecht. „Du hast einen Jungen mit nach Hause gebracht, weil er verletzt war. Dann hast du neben ihm im Bett geschlafen und ihn durchs Fenster rausklettern lassen." Mist. Wenn sie das so sagte, hörte sich die ganze Geschichte nach einer verdammt großen Lüge an.

„Seid ihr befreundet?", tastete sich meine Großmutter langsam vor. In ihren Augen konnte ich ein Strahlen erkennen, welches ich in solch einer unangenehmen Situation niemals dort erwartet hätte.

„Du weißt doch eigentlich schon alles!", sagte ich peinlich berührt. Meine Wangen hatten sich sicherlich schon in ein schickes rosa verfärbt.

Wissend grinste Nana. „Ich würde es trotzdem gern nochmal von dir hören."

„Gut ... Wir haben uns vor etwa zwei Monaten kennengelernt. Sein Name ist Chris. Also eigentlich Christopher Harper, aber er wird Chris genannt", stammelte ich. Mittlerweile war ich bestimmt schon knallrot angelaufen. Nana schmunzelte bloß darüber. Ihr schien zu gefallen, was sie hörte.

„Deine Eltern werden nicht begeistert sein", wechselte Nana das Thema. Es fühlte sich an, als liefe ich gegen eine stahlharte Betonwand. Meine Eltern konnten alles sabotieren. Erst jetzt wurde mir schlagartig bewusst, wie es war.

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