Kapitel 27. Nate

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Alin kicherte vor sich hin, auch ich konnte mir ein schmunzeln nicht verkneifen. Wir saßen zusammen mit Jonah im Gemeindschaftsraum und spielten Mensch ärgere dich nicht.
Vor gut zehn Minuten hatte sich ein Mädchen namens Sarah zu uns gesellt und spielte mit. Noch war ich mir nicht sicher, ob ich sie mögen sollte oder nicht. Ich traute ihr nicht und war sehr schweigsam, würde es besser finden, wenn nur Alin, Jonah und ich gemeinsam Zeit verbringen würden. Doch Jonah kam recht gut mit ihr zurecht und sie schien nicht den Eindruck zu vermitteln, in naher Zukunft wieder zu verschwinden. Also musste ich mich mit diesem Schicksal zufrieden geben.

Es war Donnerstag, sprich, ich war schon fast zwei Wochen hier. Das wiederum hieß, ich hatte schon fast zwei Wochen Cooper nicht mehr gesehen. Und obwohl ich es mir nie hätte eingestehen wollen, vermisste ich ihn. Ich wusste nicht einmal, woher diese Gedanken und diese Sehnsucht plötzlich kam, doch ich spürte es tief in meiner Brust. Vorallem Nachts, wenn ich alleine in meinem Bett lag, kreisten meine Gedanken nur um den Jungen aus Boston.
Er war so anders als die Anderen. Hatte mir fast sofort versucht zu helfen und war ohne mit den Wimpern zu zucken an meiner Seite geblieben. War es wahrscheinlich immer noch. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte. Wer weiß, was er jetzt von mir denkt. Schließlich war ich einfach weg gewesen, ohne ihm vorher etwas zu sagen, ohne ihm Bescheid zu geben. Bestimmt war er ganz schrecklich böse auf mich.

Stunden später, Alin war schlecht gelaunt. Ich war schlecht gelaunt. Nur Jonah und Sarah schienen guter Dinge zu sein. Redeten Die ganze Zeit über Themen, die weder mich, noch Alin interessieren. Mittlerweile hatten wir es uns in unserem Zimmer bequem gemacht. Ohne dass ich es verhindern konnte - oder gar wollte - lehnte sich ein kleiner Körper gegen meine Schulter. Alins Blick traf kurz den meinen, als wolle er um Erlaubnis bitten, und durch ein leichtes Lächeln gewährte ich ihm diese. Er kuschelte sich bequemer an mich und seufzte. "Du bist so dünn...", stellte er traurig, ja fast schon deprimiert, fest. Auch meine Lippen verließ ein Seufzen. "Das sagen mir alle."

Erst verstand ich nicht, was Alin tat. Er fuhr schnell und feste mit seinen Fingern über seinen linken Fußknöchel. Er saß im Schneidersitz an mich geschmiegt und war die letzte halbe Stunde komplett in seinen Gedanken versunken gewesen.
Mir war unklar, ob ich naiv oder einfach nur dumm war, doch ich fragte mich schon seit einigen Minuten, was Alin dort an seinem Fuß tat. Als ich leicht zu ihm schielte, stockte ich. Es waren nicht seine Finger, die über seine blasse Haut führen, sondern seine kurzen, aber doch spitzen und scharfen Fingernägel, die feste über seine schon stark gerötete Haut kratzen. Ein paar Stellen waren sogar schon aufgerissen und er verschmierte das Blut auf seinem Knöchel. Der Hosenbund am Ende des Beines war minimal nach oben gerutscht und entblößte alte Naben, welche verblasst durch seine Haut schimmerten. Mit einem leeren Ausdruck in den Augen beobachtete er Jonah und Sarah, die gerade ausgelassen zusammen lachten. Es musste weh tun, die beiden so vergnügt zusammen zu sehen, besonders wenn man schon von solchen Ausmaßen von Selbstzweifel vergiftet war, wie Alin es nun mal war. Ich verstand ihn, wollte ihn gar nicht verurteilen, machte mir lediglich sorgen um ihn. Genau wie ich mir irgendwo auf einer verdrehten Art Sorgen um Cooper machte. Noch hatten mir die Ärzte mein Handy nicht zurückgegeben, noch konnte ich Cooper nicht schreiben oder ihn anrufen, um mich bei ihm zu entschuldigen und ihm persönlich zu sagen, wo ich mich befand und das ich nicht freiwillig hier war.

"Nateeeeee.", wurde ich von Alins Stimme geweckt. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich anscheinend eingeschlafen war. "Aliiiiin.", grummelte ich müde und rieb mir über meine Augen. "Eben war Tom da. Er sagte, du hättest eigentlich einen Termin mit einem der Ärzte." Meine Augen weiteten sich erschrocken. Tatsächlich. Ich hatte es komplett vergessen. "Oh... soll ich... soll ich noch gehen?", wollte ich schuldbewusst wissen, doch Alin schüttelte nur den Kopf. "Wir haben fast zehn Uhr. Morgen. Vielleicht kommt er ja gleich weil er mir die Tabletten geben muss." Vorsichtig richtete ich mich auf, wobei mein gesamter Rücken knackte, als er sich wieder einrenkte. Es tat weh, ich lag in einer unvorteilhaften, fast schon sitzenden Position. Nun tat mir alles weh und ich fühlte mich verspannt und steif. Nur leichtes Licht erleuchtete den Raum, als meine nackten Füße den kalten Boden berührten, fiel mein Schatten zurück auf das Bett. Alins Fingernägel waren blutig, genau so wie sein Knöchel. Es sah schmerzhaft aus, doch wie eben auch wusste ich nicht, wie ich ihn darauf ansprechen sollte.

Mit patschenden Füßen trottete ich in das anliegende Bad und putzte mit zittrigen Fingern meine Zähne. Im Zimmer hörte ich, wie der Arzt mit den Tabletten, welcher jeden Abend kam um Alin seine Medikamente zu geben, das Zimmer betrat und mit meinem Zimmergenossen sprach. Ich bemühte mich, nicht zu lauschen, schließlich gehörte sich das nicht. Ob ich der einzige war, der das so sah? Wohl möglich. Ob mir im Bad eiskalt war? Definitiv. Ob der Arzt ging, ohne nach mir auch nur zu fragen? Irgendwie schon. Ich wollte mir darüber nicht so viele Gedanken machen und versuchte sie deshalb mit einer angenehm warmen Dusche aus meinem Kopf zu schwemmen. Das Gegenteil wurde erreicht. Es schien fast so, als würde das Wasser die schlechten Gedanken anziehen wie Licht Mücken lockte. Ich fühlte mich, als wäre ich das Licht, dabei war ich in Dunkelheit eingehüllt. Von Dunkelheit und Wasser, welches mir die Luft stahl und mich nicht richtig atmen ließ, doch die Mücken, die bösen Gedanken, an mich heran ließ. Als würde mein Kopf ein Schloss sein, und das Wasser und die angenehme Wärme öffneten die Tore und ließen alles rein, was böse und schlecht erschien. Zudem war mir ganz und gar nicht klar, wieso mein Kopf solche Metaphern und Vergleiche suchte und fand. Ich war von mir selbst verwirrt und hatte Angst, unterzugehen. Fast schon panisch schlug ich den Wasserhahn hinunter und ließ somit das Wasser stoppen. Mein Hals juckte, meine Haut brannte. Plötzlich kam mir das Badezimmer heiß vor, als würde die Kälte von eben plötzlich zu Feuer um mutieren. Ich versuchte mich zu beruhigen, mir war unklar, wieso mein Körper und mein Verstand so schlagartig in Panik geriet. Statt ruhiger zu Atmen, wurde es immer stockender und hektischer, rasselnd versuchte ich Luft in meine Lunge zu ziehen. Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, meine Lunge würde explodieren, da sie so schnell und stark arbeitete, doch auf der anderen Seite dachte ich, ich würde ersticken, weil meine Lunge wie eingefroren wirkte. "Alin...", rief ich japsend und panisch, konnte meine schwache Stimme keine Stärke verleihen. "A... Alin....", der Boden unter meinen Beinen schwankte, meine Hände fanden keinen Halt an den glatten und nassen Fliesen der Dusche. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und verbanden sich allmählich zu einer großen Masse. Halb blind versuchte ich die Dusche aufzureißen, doch ich fand den Ausgang nicht. Mit Todesangst hämmerte ich gegen das Glas, doch obwohl ich meine gesamte Kraft in das Hämmern steckte, war es nur ein leises klopfen. Plötzlich war der Boden Decke und die Decke Boden und dann waren meine Arme und Beine in einem glatten Sarg gefangen. Ich konnte nicht verstehen, dass ich in keinem Sarg lag, der mich bewegungsunfähig machte, sondern lediglich der Duschboden. Das Keramik war kalt, obwohl erst vor wenigen Minuten warmes Wasser auf es geplätschert war. Mit dem schrecklichen Gefühl, an meiner unerwarteten und meiner Meinung nach grundlosen Panikattacke zu erliegen, verlor ich mein Bewusstsein, bevor Alin das Bad betreten konnte.

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Sorry, das kurz und lange Wartezeit = Urlaub. Bye.

Thin boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt