Kapitel 32. Alin

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××Trigger Warnung××

Ich saß schluchzend im Bad, die kalte Klinge lag so leblos, wie ich mich fühlte, in meinen Händen. Vorsichtig nahm ich sie zwischen meine Finger und drehte sie ein wenig. Wie schön es doch aussah, wenn das Licht in dem matten Metall brach und man Texturen auf der Oberfläche erahnen konnte. Wie leicht dieses kleine Plättchen war, wie sauber, wie neu. Sie war kalt und leicht feucht, meine Finger waren es ebenfalls, ich hatte hoffnungslos versucht, die Tränen von der Wange zu wichen. Doch der Fluss war nicht zu stoppen, ebenso wie meine Trauer.

Nate war im Zimmer, oder er war noch in einer Einzeltherapie. Er blieb immer und immer länger dort, die Ärzte hatten schwer mit ihm zu schlucken. Er erinnerte mich ein wenig an mich selbst, längst aufgegeben, zulange gekämpft, zu lange Stark geblieben.
Und trotzdem würde er hier schneller raus kommen als ich. Viel schneller. Es lag an der Art seiner Erkrankung. Wäre er aus dem selben Grund wie ich hier, würden sie ihn auch für Umstehende zu gefährlich halten, und ihn zum Wohl der Allgemeinheit hier drinne verwahren, bis er seiner Krankheit erlag. Doch er hatte, offensichtlich und unwiderruflich, eine Essstörung, eine Krankheit, die nur ihm selber schadete, er verletzte mit seinem Tun keine anderen. Zumindest nicht mit Absicht. Nicht körperlich.
Wenn die Ärzte merkten, sie stießen bei Menschen wie ihm auf Wände, entließen sie sie nach einer Zeit. Zwingen hilft nichts, sagten sie stets. Mir etwa? Die Jugendlichen wurden dann mit den Worten "Du bist noch nicht bereit, gesund zu werden. Wir werden dich an einen unserer externen Mitarbeiter versetzten, dann werden Sie ambulant behandelt. Wenn diese Hilfkraft dann der Meinung ist, dass du bereit bist, gesund zu werden, hast du einen sofortigen Platz hier sicher.", entlassen, vielleicht sogar abgeschoben. Der Platz könnte schließlich jemand anderes benötigen.

Bei mir war das was anderes. Ich hatte schwere chronische Depressionen, selten auch eine Manie, schon etliche Suizidversuche hinter mir. In meinen manischen Phasen war ich unberechenbar, ich nahm meine Medikamente nicht und depressiv war ich für niemanden zu gebrauchen. Ja, ich kotzte mich selber an. Bipolare Störungen. Manische Depressionen, nennt es, wie ihr wollt.

Der Boden unter mir war so kalt wie das Wasser in der Dusche, welches noch immer lief. Ich hatte es nicht ausgemacht, tropfte nur den Boden unter meinen nackten Füßen nass. Das T-Shirt klebte schwer und kalt an meinem Körper hinunter, erinnerte mich an meine Gedanken, welche ebenso schwer und kalt meinen Kopf vergifteten. Mir war so speilübel. Noch war ich mir unsicher, ob ich es erneut versuchen sollte, ob ich es überhaupt wollte. Schaffte, mich danach wieder aufzurichten, wenn ich erneut versagte. Wie ich mein Glück kannte, würde ich es wieder nicht schaffen. Konnte ich hier weitere Monate, Jahre, aushalten? Konnte ich das Jonah antun? Was war mit Nate? Würde er mich finden? Der Junge wäre am Boden zerstört.

Langsam öffnete ich den Verband um mein Handgelenk. Was Fingernägel so alles ausrichten konnten. Traurig fuhr ich über die Wunden und Narben, alte und neue, tiefe und eher Oberflächliche, fast verblasste, weiße und zart rosane. Es erinnerte mich an ein Kunstwerk, ich war der Künstler und meine Waffen die Pinsel. Ich wäre ein verrückter Künstler, wie Vincent van Gogh, der sich sein Ohr abschnitt und angeblich an Schizophrenie litt, oder wie Ernest Hemingway, welcher Depression hatte, dem Alkohol verfiel und schlussendlich Selbstmord beging. Vielleicht wäre ich auch Frida Kalhlo gewesen, ebenfalls depressiv, aufgrund von durch einen schweren Unfall verursachteten Schmerzen. Oder Mark Rothko, manisch-depressiv, schnitt sich in seinem eigenen Atelier die Pulsadern auf. Wie auch immer, die Liste war furchtbar lang.

Wie sehr ich die Kunst doch liebte. »Junges Mädchen das gegen Eros sich verteidigt«, aus dem Jahre 1880 von Adolphe-William Bouguereau, eins meiner absoluten Lieblingsstücke. Das hübsche Mädchen, welches sich so gegen die Liebe, gegen Eros in Form eines kleinen Buben mit Engelsflügeln wehrte. Wie sie schüchtern ihre Beine mit dem blauen Tuch verdeckte, vielleicht war es ihr Gewand, welches das Kind ihr von den Schultern zog. Beide Arme ausgestreckt, das Kind auf Abstand haltend. Der Engel jedoch hielt den Pfeil der Liebe gezückt, war bereit, ihn ihr erbarmungslos in ihr zartes Herz zu versenken, ihre makellose Haut zu durchtrennen und zuzulassen, dass sie einsam und alleine in der Liebe verloren ging. Trotz dem hellen Tag und der friedlichen Umgebung der beiden, hatte das Bild etwas verzweifeltes an sich. Hatte schon beim ersten Mal Betrachten meine Faszination geweckt und mich nachts in meine Träume begleitet.

Ich zuckte zusammen, wurde aus meinen Gedanken gerissen. Das kalte Metall berührte wie von alleine meine vernarbte Haut. War bereit, sie aufzuschlitzen, so wie Eros bereit war, das Mädchen mit dem Pfeil der Liebe zu verletzen. Sie zum bluten zu bringen. Vielleicht sogar durch diesen Kampf, vielleicht ohne es zu wollen, umzubringen. Ich schluckte und drückte die spitze und scharfe Klinge in mein Fleisch, durchtrennte meine Haut ohne Probleme. Als würde ich weiche Butter auf einem Brötchen verteilen. So leicht war es, sich selber zu schaden, und doch war es so schwer, damit aufzuhören. Stumme Tränen der Verzweiflung fanden ihren Weg meine Wangen hinunter. Die Stelle, in welcher die Klinge meine Haut spaltete, schmerzte und brannte, doch anstatt das tötliche Instrument aus mir herauszuziehen, zog ich es weiter. Durch meine arme Haut, welche wiederstandslos auseinander glitt. Rotes, rohes Fleisch offenbarte. Weiße Knochen, hätte ich tiefer geschnitten. Blut. Diese rote Farbe war so schön, so intensiv. Mit ihr würde ich gerne mal auf eine weiße Leinwand malen, sie Sättigung des Farbtons war schier perfekt. Einfach wunderschön. Es versetzte mich in Trance, ließ zu, dass ich mich erneut schnitt. Und erneut. Dann...

Ein Keuchen. Ich riss die Klinge aus meinem Arm, nun nicht mehr sauber, rot, blutverschmiert, ebenso mein Arm, der Boden, meine Finger. Ich schmiss die Klinge schwach in die Dusche. Was tat ich hier nur? Ich war egoistisch, schon wieder, hatte nur an mich und nicht an meine Liebsten gedacht, schon wieder. Meine schlotternden Beine trugen mich wieder unter den kalten Wasserstrahl. Es brannte so fürchterlich, ich biss mir in meine Faust, damit ich nicht laut aufkeuchte, laut schluchzte, vielleicht sogar schrie. Es schmerzte so sehr, fast so sehr wie mein Herz. Mein gottverdammtes Herz.

Der weiße Boden der Dusche färbte sich rot, ebenso wie das Wasser. Ich harrte in dieser Stellung ein paar Minuten aus, dann trocknete ich mich ab, verband meinen Arm so gut es mir eben möglich war und entfernte das langsam trocknende Blut mit Klopapier vom Boden. Das Wasser in der Dusche hatte die Klinge bereit gesäubert.
So schnell eskalierte es. So schnell sah das Rot des Blutes nicht mehr perfekt, sondern widerlich aus. Wieder wurde mir schlecht. Mein Arm schmerzte so, genau wie meine Knöchel, auf welche ich gebissen hatte. Der metallische Geschmack meines eigenen Blutes auf meiner Zunge machte mich verrückt.

Ich hatte ja gesagt, ich war ein verrückter Künstler...

Als ich zurück ins Zimmer trat, fehlte von meiner vorherigen Hektik jede Spur. Niemand hatte irgendetwas mitbekommen. Ich war so alleine wie eh und je. Einsam.

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Jeeeey, das Kapitel ging innerhalb einer halben Stunde locker flockig von meinen Finger.

Das erste mal aus der Sicht von Alin. Vielleicht auch das letzte Mal? Wer weiß.

Thin boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt