Kapitel 3

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Zuerst dachte er an ein Hirngespinst, eine Wunschvorstellung oder einen Traum, aber desto länger er auf sie starrte, desto realer wurde ihre Person. Sein Körper schien für einen kurzen Moment versteinert zu sein und es kam kein einziges Wort über seine Lippen. Er schaute sie einfach nur an.

Jetzt, im hellen Tageslicht, ohne Nebel und Regen, sah sie einfach nur wunderschön aus. Sie trug ein moosgrünes Kleid, dessen zarter Stoff schmeichelnd ihre feminine Figur umspielte, oben offen genug um ihren schlanken Hals und etwas Dekolletee zu offenbaren. Mittig hing eine zum Knoten gebundene Perlenkette und lange elfenbeinfarbene Handschuhe, aus Satin, bedeckten ihre Unterarme, kleine Armbänder und eine schicke Uhr zierten ihr rechtes Handgelenk. Ihr kastanienbraunes Haar war oben mit einem Fascinator aus grünem Filz, und farblich passenden, schimmernden Federn bedeckt. Den Rest ihrer Haare hatte sie im Nacken mit ein paar feinen Nadeln zusammengesteckt. Er schaute ihr nun direkt in ihre großen, tiefgrünen Augen, die ihn fragend anblickten.
Stille.
Eine Stille, bei der man den Fall einer Stecknadel als lauten Knall wahrnehmen würde.
Stanton schluckte. Er sollte jetzt wirklich was sagen, aber er konnte kein Ton von sich geben. Als die vollen roten Lippen ihm auch noch ein Lächeln schenkten, bekam er direkt weiche Knie.

Er muss auf sie wie ein Mann gewirkt haben, der gerade einen Geist gesehen hatte, denn Sie berührte sanft seinen linken Arm und fragte: „ Ist alles in Ordnung? Wenn ich ungelegen komme, dann werde ich mich direkt wieder verabschieden und vielleicht ein anderes Mal..", Stanton fiel ihr ins Wort: „ Nein,... auf keinen Fall,... ist vollkommen perfekt. Also der Zeitpunkt.. meine ich. Bitte,... bleiben Sie ruhig..." , stotterte er . Obwohl er immer noch wie angewurzelt dastand, wanderte seine rechten Hand, verlegen, in den Nacken. Das tat er immer in peinlichen Situationen und konnte diese Bewegung auch dieses Mal nicht unterdrücken.
Was zum Teufel war gerade mit ihm los, fragte er sich innerlich, denn normalerweise hatte er nie Probleme damit gehabt mit Frauen zu sprechen.
Aber in diesem Fall, war irgendwie alles anders gewesen, als in seiner Vorstellung. Er benahm sich merkwürdig.
Mia störte sein Verhalten anscheinend nicht, denn sie sprach im ruhigen Ton einfach weiter und streckte ihre Hand aus um sich höflich vorzustellen.
„ Mein Name ist Mia Trevelyan, ich bedaure die Umstände, bei denen wir uns das erste Mal begegnet sind, und ich möchte mich noch einmal, persönlich bei Ihnen für Ihre Hilfe bedanken." Sie strahlte Stanton dabei so herzlich an, dass er wieder nach Worten suchen musste.
„ Angenehm, Stanton.. Stanton Rutherford. Gerne geschehen, das war doch selbstverständlich."
„ Ich würde mich gerne dafür irgendwie erkenntlich zeigen, wenigstens mit einem Kaffee? Unten, an der Bakerstreet wurde neulich ein süßes, kleines Café eröffnet. Ich glaube es heißt ' Haven ', vielleicht würden Sie, nächste Woche, mit mir dorthin gehen wollen? " Sie lächelte erneut und blickte ihn erwartungsvoll an.
„ Das ist nicht nötig, das habe ich sehr gerne gemacht", plapperte er drauf los ohne nachzudenken.
„Oh, schade." Sie senkte ihren Blick und sah etwas enttäuscht aus.
„ Sie wollen also keinen Kaffee mit mir trinken gehen?", fragte sie vorsichtshalber nochmal nach.
„ Nein,... ich meine doch... sicher, gerne. Natürlich will ich das". Stanton musste versuchen sich zu konzentrieren. Nichts lieber als das, dachte er, aber irgendwie konnte er das nicht flüssig aussprechen.
„ Das freut mich natürlich. Sagen wir Mittwoch, 16.00 Uhr vor dem Eingang? Würde Ihnen dieser Vorschlag terminlich passen?"
Ohne in seinen Terminkalender zu blicken, nickte er mit seinem Kopf.
„ Wunderbar! Dann lasse ich Sie jetzt weiterarbeiten und hoffe nicht allzu viel von Ihrer Zeit verschwendet zu haben."
Beim Verlassen des Büros drehte Sie sich noch einmal fröhlich um und winkte ihm kurz zu.

Es hat noch ungefähr zwei Minuten gedauert bis er sich wieder frei bewegen konnte. Er lief in seinem Büro auf und ab und hämmerte dabei fortwährend mit der Faust gegen die Stirn. Du bist so ein Idiot, dachte er sich dabei. Was war das für ein Auftritt? Was für ein dämliches Verhalten? Er konnte einfach nicht verstehen was mit ihm los war. Er lief weiter zum Spiegel, um zu kontrollieren wie er überhaupt aussah. Bis auf die Fäden in seiner Oberlippe, die erst am Montag gezogen werden sollten, und einer etwas zerzausten Frisur war alles in Ordnung gewesen.
Heute war Freitag, ihm blieb also noch genügend Zeit, um sich auf das Treffen mit Mia moralisch vorzubereiten. Diese Zeit wollte er nutzen, nein er musste sie nutzen, um sich beim nächsten Zusammentreffen nicht erneut, völlig zu blamieren.
Eines war ihm klar, heute würde er sich auf nichts mehr konzentrieren können und das Beste für ihn wäre, die Arbeit ruhen zu lassen, um sich mit einem schönen Glas Rotwein und einer guten Schallplatte zuhause zu entspannen.
Als er gerade dabei war sein Büro abzuschließen, stand ein junger Mann mit einem tief in sein Gesicht gezogenem Hut hinter ihm.
„ Mr. Rutherford, hätten Sie vielleicht noch einen Augenblick?", fragte der junge blonde Mann, etwas zaghaft.
„ Mein Name ist Cole. Cole Ghost. Ich würde mich bei Ihnen gerne um eine Assistenstelle bewerben. Wenn Sie eventuell kurz Zeit erübrigen könnten?"
Stanton wollte nicht unhöflich sein und gewährte dem etwas mager und blass wirkenden Burschen, Einlass. Eigentlich, dachte er, könnte er tatsächlich etwas Hilfe gebrauchen und deshalb war er gespannt darauf, was Cole anzubieten hatte.
„ Bitte Mr. Ghost, nehmen Sie Platz", bot er ihm an, rückte den Stuhl an der Vorderseite seines Schreibtisches zurecht und setzte sich gegenüber.
„ Ich habe hier ein paar Unterlagen, die vielleicht interessant für Sie wären. Es sind Zeugnisse und Empfehlungsschreiben dabei, von meinen vorherigen Arbeitgebern. Ich habe in dieser Branche schon gearbeitet und hege dafür weiteres Interesse. Durch meinen Umzug von Liverpool nach London bin ich leider gezwungen worden, eine neue Arbeitsstelle zu finden." Cole überreichte ihm die Papiere.
„ Was zählte zu Ihren Hauptaufgaben in der ehemaligen Detektei?", fragte Stanton direkt nach.
„ Eigentlich alles was angefallen war. Observationen, Recherchen, das Zusammentragen der Beweismittel für die Auftraggeber und jede Menge Büroarbeit, die dadurch angefallen war. Ich kann gut und schnell tippen, einigermaßen Fotografieren und arbeite zuverlässig und selbstständig. Außerdem habe ich 4 Semester Psychologie und Philosophie studiert. Ich denke, das sind gute Voraussetzungen für diese Tätigkeit." Trotz der hervorragenden Vita wirkte er etwas verschlossen und schüchtern auf Stanton, war aber bestens qualifiziert für diese Arbeit.
„ Sehr gut Mr. Ghost, ich hätte tatsächlich Interesse und wenn Sie Zeit haben, würde ich Sie gerne, ab Montag mit einer Probezeit von 6 Monaten, einstellen."
Cole wirkte sehr zufrieden, stimmte den Bedingungen und seiner Entlohnung zu und fügte noch bei: „ Ich kann helfen."


Der Abend war klar und es roch nach Frühling. Stanton beschloss die wenigen Blocks zu Fuß nach Hause zu gehen, denn etwas frische Luft könnte ihm jetzt nicht schaden. Obwohl es Ende April nicht besonders warm war, schon gar nicht in den frühen Abendstunden, umgarnte ihn eine wohlige Wärme, als er die Ereignisse der letzten Stunden Revue passieren ließ. Vor allem das Wiedersehen und die Einladung von Miss. Trevelyan stimmten ihn zuversichtlich.
Sie war eine sehr attraktive Frau, die ihn nicht nur durch ihre äußere Erscheinung, aus der Fassung brachte. Da war mehr. Eine zusätzliche Anziehungskraft, die er in dieser Art noch nicht kannte.
Eigentlich bekam er die Gelegenheit, ihr den Haarkamm wiederzugeben, aber da sie sich für Mittwoch verabredet haben, dachte er, wäre dies der bessere Zeitpunkt dafür.
Er schaute in den klaren Himmel und sah unzählige Sterne am Himmelszelt, sie erinnerten ihn an Mias Sommersprossen, denn sie machten ihr Gesicht, wie die Sterne den Himmel, lebendiger.

Außerdem war da noch dieser junge Mann. Er kam eigentlich wie gerufen, denn die Arbeit war schon länger nicht mehr alleine zu bewältigen gewesen und Stanton musste viele Aufträge ablehnen, die er voraussichtlich in Zukunft mit der neuen Hilfe annehmen könnte. Eigentlich lief alles gut momentan.





„ Mr. Rutherford, sie wirken heute etwas abwesend, fast schon nervös. Ich hoffe nicht, das hat was mit mir zu tun?", stellte Cole am besagten Mittwochmorgen fest.
„ Nein.... Tue ich das?" Stanton fuhr mit seiner rechten Hand, verlegen in den Nacken.
„ Ja, und wenn es nicht mit mir zu tun hat, dürfte ich dann erfahren worum es geht? Beschäftigt Sie vielleicht ein früherer Fall, der heute zum Abschluss kommt, von dem ich wissen sollte? Vielleicht kann ich helfen?"
„ Auch nicht. Ganz und gar nicht. Ich würde Sie nur bitten heute Nachmittag das Büro bis achtzehn Uhr alleine zu besetzten, falls noch jemand vorbeikommen sollte, denn ich müsste ab spätestens 15.30 Uhr den Arbeitsplatz verlassen."
„ Selbstverständlich. Müssen Sie eventuell dringende Recherchen durchführen, die sie aus der Ruhe bringen?", fragte Cole weiter wissbegierig.
„ Wenn ich an ihrer Stelle diese Aufgabe übernehmen soll, dann klären Sie mich über weitere Details auf..."
„ Nein! Das geht auf keinen Fall!" Stantons Stimme klang schärfer als er beabsichtigt hatte, denn Cole senkte eingeschüchtert seinen Kopf.
„ Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Es ist nur... es ist privat." Versuchte er sich wieder zu entschuldigen.
„Oh, ich verstehe. Geht es vielleicht um die junge Dame, die kurz bevor ich mich vorgestellt habe, ihr Büro verlassen hat? Sie wirkte nämlich etwas verunsichert aber dennoch glücklich, als sie ganz langsam letzten Freitag an mir vorbei lief."
Coles Beobachtungsgabe war einzigartig, denn nicht die kleinste Geste blieb vor seinem scharfen Auge unbemerkt. Das war überaus hilfreich in diesem Beruf.

Obwohl Stanton eher ein Mensch war, der sich nicht so schnell jemandem anvertrauen wollte, schon gar nicht jemandem den er noch nicht so lange kannte, vertraute er diesem jungen Mann merkwürdigerweise direkt, und erzählte ihm die ganze Geschichte sehr detailliert. Was vorgefallen war an dem Abend, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, wie er seine Narbe dadurch bekam und sogar von seinem unpassenden Verhalten beim Wiedersehen.
Cole unterbrach ihn bei seiner Erzählung nicht und hörte aufmerksam zu.
Nach einer längeren Bedenkzeit sagte er: „ Ich verstehe. Sie bedeutet Ihnen etwas, sogar vielleicht mehr als nur etwas.. Ich würde sogar behaupten, Sie könnten sich Hals über Kopf in diese Frau verlieben und das Treffen heute setzt Ihnen deshalb so zu, weil Sie Angst haben, etwas falsch zu machen oder was Falsches zu sagen.."
„ Verlieben?", unterbrach ihn Stanton „ Ich kenne Sie doch kaum."
„ Das stimmt, aber manchmal lässt sich so etwas nicht rational erklären Mr.Rutherford. Vielleicht kenne Sie diese Dame besser als sie glauben, und als Rat für heute Nachmittag, kann ich Ihnen nur empfehlen, seien Sie einfach Sie selbst."
„ Wer soll ich denn sonst sein?"
„ Nun ja, Menschen verstellen sich gerne. Sei es um etwas zu verschleiern oder zu verbergen, wie ihre eigenen Fehler zum Beispiel. Oder sie versuchen sich besser darzustellen als sie sind. Zum Beispiel intelligenter, selbstbewusster, fröhlicher, offener oder geschickter. Gerade so wie sie glauben das Gegenüber besser von sich begeistern zu können oder zu täuschen. Das ist falsch, aber so ist die menschliche Natur. Am schwierigsten ist es, man selbst zu sein und darauf zu hoffen, dieses genügt der anderen Person. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie einen schlechten Eindruck auf Miss Trevelyan gemacht haben, denn schließlich wurden Sie zu einem, eher persönlichem Treffen eingeladen. Dieses hat wohl auch seine Gründe. Und anscheinend fand sie ihr Benehmen am Freitag ganz spannend, denn sonst hätte sie nicht so glücklich auf mich gewirkt. Da wurden Sie zwar durch ihrem Besuch überrascht, aber ihr Verhalten war in dieser Situation natürlich und echt, da Sie keine Zeit hatten zu überlegen, wie sie eventuell besser auf sie wirken könnten. Das war gut."
Stanton verschränkte seine Arme vor der Brust und schaute skeptisch.
„ Ich fand mein Verhalten überhaupt nicht natürlich.."
„ Das ist eine Frage der Definition. Sie meinen wohl eher unnatürlich im Sinne von noch nie da gewesen, wenn Sie es auf die Frauenwelt beziehen, aber Sie haben auch vorher noch nie diese Lady getroffen und daher war ihr Verhalten natürlich, im Bezug auf ihre Person. Das bestätigt doch meine Vermutung, dass sie was ganz Besonderes für Sie ist."
Vielleicht hatte dieser unerfahren wirkende, junge Mann tatsächlich recht.
Vielleicht machte er sich wirklich zu viele Gedanken über sein Verhalten am letzten Freitag. Bei ihrer ersten Begegnung war er mehr, er selbst gewesen. Da musste er handeln und das wollte er auch. Es entsprach zu hundert Prozent seinem Naturell eine Frau zu beschützen. Da war er sich seines Handelns instinktiv bewusst gewesen, und deshalb sollte er einfach wieder versuchen mehr auf seine innere Stimme zu hören.
Nach diesem Gespräch ging es ihm tatsächlich besser, er fühlte sich befreiter und selbstsicherer. Das war doch eigentlich ganz einfach, weniger Verstand, mehr Bauchgefühl. Normalerweise hatte ihn sein Bauchgefühl noch nie im Stich gelassen, warum sollte es dann heute anderes werden?

„ Noch eine letzte Frage, wäre es unangebracht Blumen mitzubringen zu dieser Verabredung?" , fragte Stanton etwas unsicher nach.
„ Wenn eine innere Stimme Ihnen sagt, dass Sie Blumen besorgen sollen, dann ist das auch angebracht", gab Cole ihm lächelnd als Antwort.

Obwohl es erst viertel nach drei Uhr war, machte sich Stanton auf den Weg ins verabredete Café. Es war wirklich nicht weit, aber er wollte unbedingt pünktlich sein und vorher noch im Blumenladen vorbeischauen. Als er sein Büro verließ atmete er erstmal tief durch, die frische Briese ordnete ein bisschen seine Gedanken.

Er trug eine schwarze, schlichte aber edle Hose, die an Hosenträgern mit einem weißen Längsstreifen hing, dazu das passende Jacket und ein weißes, tailliertes Hemd an dem der obere Knopf geöffnet war. Keine Krawatte oder Fliege, denn das schien ihm zu förmlich. Da es noch etwas kühl war bedeckte ein graumelierter, gerade geschnittener Tweedmantel seine breiten Schultern, der etwas oberhalb seiner Knie endete. Der Mantelkragen war aufgerichtet und ein kleines weißes Stecktuch zierte seine obere Manteltasche.
Da nun die Fäden aus seiner Oberlippe gezogen waren, konnte man deutlich erkennen, dass eine Narbe an dieser Stelle zurückbleiben würde.

Im Blumenladen wurde sein Blick direkt auf weiße Lilien gelenkt, die er zu einem kleinen, dezenten Strauß binden ließ und machte sich auf, Richtung Café.

In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt