Kapitel 39

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Mit merkwürdig brennendem Schmerz in ihrer linken Handfläche wachte Mia am nächsten Morgen auf. Es war noch früh, der Tag hatte noch nicht vollständig den Sieg über die Nacht errungen, und doch war sie bereits hellwach. Eine Mischung aus stetig wachsender Neugier und unbegründeter Zukunftsangst ließen sie nicht mehr schlafen. Unbegründet? War es das wirklich? - Sie wusste es nicht. Das Schlafzimmer war noch in das fahlgraue Licht des anbrechenden Morgens getaucht, und da es regnete, wirkte alles sehr farblos und trist. Durch die Wolkentränen, die prasselnd gegen das Balkonfenster klopften, konnte sie nicht wie üblich das Meeresrauschen wahrnehmen, welches sie normalerweise jeden Morgen sanft in den Tag begleitete. Nur der Blick auf ihren noch tief schlafenden Ehemann zu ihrer Rechten zauberte ihr ein mildes Lächeln ins Gesicht.
Er schlief seelenruhig neben ihr, so als ob er, im Gegensatz zu ihr, keine Albträume in dieser Nacht gehabt hatte.
Mia starrte auf ihre offene linke Handfläche, die jetzt im wachen Zustand aussah wie immer. Und doch konnte sie sich, sobald sie die Augen wieder für einen Moment schloss, daran erinnern, dass da noch vor wenigen Minuten ein grünes Leuchten, ein Licht, eine starke, unbändige Macht gewohnt hatte. Dieses grüne Glimmen war ihr nicht fremd, und obwohl sie nicht hätte sagen können, was es war, wusste sie, dass dieses Mal ein Geschenk war, eine Gabe, die nur sie allein besaß und die ein wichtiger Teil ihrer eigenen Geschichte war. Etwas, das helfen, das Leben retten konnte, eine Waffe, die Hoffnung für viele, etwas Unverzichtbares, etwas Besonderes. Nur Traumfetzen drangen verschleiert zu ihr durch, sobald sie sich verstärkt darauf fokussierte. Sie sah sich selbst mit erhobener Hand klaffende Löcher im Himmel schließen, spürte die starke Magie, die ihr sowohl Schmerz als auch Genugtuung bereitete, sobald sie einen Riss im Himmel verschließen konnte, aus dem Dämonen und andere furchterregende Kreaturen, wie Kinder einer dunklen Brut, geboren wurden, nur um im nächsten Augenblick wieder ins Jenseits befördert zu werden.
Sie wusste, dass nur sie alleine diese Aufgabe bewältigen konnte, denn nur sie besaß den Anker, diese magische Fähigkeit, den Himmel zu reinigen. Darüber hinaus war sie nie allein, aber wer sie begleitete, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern, denn zu verschwommen waren die Gesichter ihrer Gefährten, ihrer Freunde.

Leise seufzend erhob sie sich vorsichtig aus dem Bett, denn natürlich wollte sie Stanton nicht wecken, aber da sie selbst nicht mehr hätte schlafen können, wollte sie unbedingt den ersten Blick in das geheimnisvolle, kleine Buch riskieren. Ihre Neugier zwang sie einfach dazu.
Auf Zehenspitzen schlich sie um das Bett herum. Doch obwohl sie sich sehr bemühte, knarzte der Dielenfußboden immer wieder leise auf, bei fast jedem ihrer kleinen Schritte. Nachdem sie sowohl den passenden Schlüssel als auch das Tagebuch an sich genommen hatte, wollte sie unbemerkt nach unten gehen, aber das grell quietschende Türscharnier machte ihr einen Strich durch die Rechnung.
„Was hast du vor?", fragte Stanton mit einem Lächeln und nur halb geöffneten Augen.
„Verdammt!", fluchte Mia ertappt. „Ich wollte dich nicht aufwecken, aber ..."
„Aber was? Du kleines neugieriges Ding. Du brauchst das Buch jetzt auch nicht mehr unter deinen Armen zu verstecken", lachte er leise. „Komm wieder ins Bett."
Resigniert und leise seufzend folgte sie der Aufforderung. „Ich kann nicht mehr schlafen, und ich dachte ..."
„Na komm schon", er breitete seine Arme aus, um sie einzuladen, sich hinein zu kuscheln, „jetzt bin ich ebenfalls wach, also können wir auch gemeinsam hineinschauen, oder wolltest du das alleine machen?"
Mia schüttelte den Kopf und schmiegte sich ergeben in seine Umarmung. „Nein, eigentlich nicht, aber dich dafür aus dem Bett holen, wollte ich jetzt auch nicht, denn du hast so süß geschlafen."
Stanton küsste ihren Scheitel. „Süß? Naja, wenigstens habe ich nicht geschnarcht, und eigentlich wollten wir doch gemeinsam das Geheimnis lüften, nicht wahr?"
„Du schnarchst nicht, beziehungsweise sehr sehr selten, eher dann, wenn du was getrunken hast, aber das ist nicht schlimm." Sie petzte ihm ein Auge. „Ich kann auch alleine lesen, wenn du doch noch schlafen möchtest."
„Kann ich jetzt sowieso nicht mehr und will ich auch nicht." Er richtete sich etwas auf und zog sie höher. „Dann mal los, lass uns das Ding öffnen, denn du gibst sowieso keine Ruhe mehr, bevor du nicht weißt, was drin steht."
So eng von seinen Armen umschlungen zu sein, seinen Duft am Morgen wahrzunehmen und in seine noch leicht verschlafenen Augen zu blicken, machte es ihr nicht gerade einfach, sich auf ein Tagebuch einzulassen, aber ihre Neugier peitschte sie innerlich schon zu sehr, dass sie diese Tatsache in diesem Moment hätte ignorieren können.
„Bist du bereit?", fragte sie aufgeregt nach, bevor sie den kleinen Schlüssel in die Hand nahm.
Stanton nickte. „Wenn es das ist, was du jetzt begehrst, dann bin ich bereit."
„Es ist das, was ich jetzt wissen will. Was ich begehre, das bist du", offenbarte sie mit einem verführerischen Lächeln.
Stanton rollte stöhnend mit den Augen. „Schließ es auf, denn sonst habe ich es mir gleich anders überlegt."
Mia nahm das Buch und öffnete mit klopfendem Herzen den Verschluss. Natürlich wollte sie unbedingt wissen, was darin stand, aber ebenso hatte sie auch Angst davor, es zu erfahren. Der innere Kampf zwischen Neugier und Furcht ließ ihren Magen sich mehrmals zusammenziehen.

„Der Weg des Ankers – die grün leuchtende Hoffnung von Thedas" - von Milena Rutherford (Pavus), der Herold Andrastes, der Inquisitor

Schon nach der ersten Zeile schlug sie zitternd das Buch wieder zu, denn es warf jetzt schon zu viele Fragen auf, die sie nicht begreifen konnte, und die wie aufgescheuchte Tauben wild in ihrem Kopf umherflatterten. Völlig benommen starrte sie auf den ledernen Einband und versuchte ihr donnerndes Herz zu beruhigen. Stanton presste sie noch enger in seine Arme hinein, in denen sie mit dem Rücken zu ihm gewandt saß.
„Ich ... ich begreife das nicht", stotterte sie heiser, „soll das etwa ich geschrieben haben?!"
Stanton atmete schwer durch. „Sieht fast danach aus. Sollen wir es verbrennen? Mia, wir müssen das nicht lesen."
„Doch! Wir müssen. Ich weiß, dass wir es müssen, und du weißt es auch", protestierte sie. „Pavus, war der Mädchenname meiner Großmutter. Habe ich dir das eigentlich mal erzählt?"
„Das hast du nicht, jedoch weiß ich es jetzt. Das ist eigenartig, aber ich denke, auch das wird hier erklärt werden", er zögerte kurz, „vorausgesetzt, du willst es erfahren."
„Habe ich... haben wir eine andere Wahl?"
„Die haben wir immer!" Seine Stimme klang ernst.
„Das ist wahr, aber wäre es nicht egoistisch von uns, es nicht zu lesen? Ich meine, es hat bestimmt einen schwerwiegenden Grund, warum es hier ist, warum alles hier ist, meinst du nicht auch?"
Nach wenigen Augenblicken, in denen keiner der beiden etwas sagte, bestätigte Stanton ihre Vermutung: „Ich denke, ja. Lass es uns lesen, und dann entscheiden wir, wie wir darüber denken, einverstanden?"
„Du hast recht. Trotzdem ist es merkwürdig, etwas zu lesen, das anscheinend ich selbst geschrieben haben soll. Es ist sogar meine Handschrift."
Zitternd, jedoch wieder völlig von ihrer Neugier getrieben, schlug sie die alten Seiten wieder auf und las laut vor: 

In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt