Kapitel 5

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Obwohl er schon früher im Büro war, als die regulären Öffnungszeiten es von ihm verlangt hätten, traf er seinen Assistenten dort schon vertieft in die Akten an. Der junge Mann gab sich wirklich große Mühe, seiner Arbeit gewissenhaft nachzugehen, und Stanton erkannte sich darin wieder.

„Guten Morgen, Mr. Ghost. Habe ich während meiner gestrigen Abwesenheit irgendetwas Wichtiges verpasst?"
„Wir hatten gestern gegen siebzehn Uhr Besuch von einem Mr. Travelyan, der überrascht darüber schien, Sie hier nicht persönlich anzutreffen. Er stellte sich mir als Inspektor des Drogendezernats vor und war in Begleitung von seinem Partner, Mr. Crow. Sind Sie mit den beiden Herren bekannt?"
„Mit Mr. Travelyan hatte ich schon zwei Mal die Ehre, aber Mr. Crow wurde mir bislang noch nicht vorgestellt. In welcher Angelegenheit wollten die Herren mich sprechen?" Stanton war etwas verwundert, dass Mia ihrem Bruder anscheinend nicht gesagt hat, mit wem sie sich am Nachmittag getroffen hatte. Denn hätte sie seinen Namen erwähnt, wäre Dorian hier bestimmt nicht vorbeigekommen.
„Zunächst wollte mir der Inspektor nicht weiter verraten, um welche Angelegenheit es sich handelt, aber nachdem ich mich als Ihr Assistent vorgestellt habe, gab er mir ein paar Akten zur Ansicht, die sich mit dem aktuellen Fall 'Cory Pheus' befassen. Ich war so frei und habe mir diese schon angeschaut. Mr. Travelyan bittet Sie um Mithilfe in dieser Sache und erwartet einen Rückruf unter folgender Nummer."
Cole überreichte ihm einen dicken Stapel Akten, auf denen eine Visitenkarte des Inspektors geheftet war.
„Er fügte noch hinzu, diese Angelegenheit streng vertraulich zu behandeln, aber ich habe ihm versichert, dass wir jeden Auftrag vertraulich behandeln. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Inhalt kurz zusammenfassen."
„Ich höre."
„Es handelt sich hierbei um eine geplante Übergabe von mehreren Kilogramm Kokain, die am Hafen stattfinden soll. Der Inspektor befürchtet eine undichte Stelle in seinen eigenen Reihen und bittet Sie um Mithilfe bei den weiteren Ermittlungen."
„Vielen Dank. Ich werde Mr. Travelyan sofort anrufen, um weitere Details zu erfahren." Stanton wählte die angegebene Nummer und wurde umgehend mit dem Drogendezernat verbunden.
„Guten Morgen Mr. Rutherford, vielen Dank für den schnellen Rückruf. Wie Sie vielleicht ihr Assistent schon informiert hat, bräuchte ich Ihre Hilfe. Allerdings möchte ich diese Angelegenheit nicht weiter am Telefon besprechen und würde ein persönliches Treffen vorziehen."
„Selbstverständlich, Inspektor, wann würde es Ihnen passen?"
„Falls von Ihrer Seite der Montagvormittag zu Verfügung steht, dann würde ich Sie nochmals in Ihrem Büro aufsuchen."
Stanton schaute kurz in seinem Terminkalender nach und bestätigte den Termin.


„Wir halten uns den Montagvormittag frei, Mr. Ghost, da bekommen wir erneuten Besuch des Inspektors", informierte er seinen Assistenten.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um Verwandtschaft von Mr. Travelyan und ihrer Verabredung gestern handelt?", fragte Cole neugierig.
„Ja, es handelt sich um ihren Bruder."
„Das Schicksal lässt die Wege von zwei Menschen, die zusammengehören, so oft kreuzen, bis beide erkennen, dass sie füreinander bestimmt sind", flüsterte Cole leise vor sich hin, aber laut genug, dass Stanton es hören konnte.
„Man kann es ihnen an der Nasenspitze ansehen, dass das Treffen gestern zu Ihrer vollsten Zufriedenheit abgelaufen ist."
Stanton schaute aus dem Fenster und lächelte in sich hinein.
„Da haben Sie wohl recht", bestätigte er Coles Aussage.
„Das freut mich für Sie. Wird es noch ein weiteres Treffen geben?", fragte Cole gezielter nach.
„Auch in diesem Punkt haben Sie recht. Wir haben uns für morgen verabredet." Stanton atmete tief durch.
„Falls Sie heute Nachmittag noch irgendwelche Vorbereitungen bezüglich ihres Treffens morgen machen müssen, dann halte ich hier gerne wieder die Stellung, denn das Flüstern einer schönen Frau hört man weiter als den lautesten Ruf der Pflicht."
Stanton überlegte kurz, ob er so frei sein konnte, das Büro schon um vierzehn Uhr zu verlassen, und kam zu dem Entschluss, sich diese Freiheit zu gönnen, denn es gab momentan keine Aufträge, die Cole nicht selbstständig abarbeiten könnte.
Bis dahin gab er ihm noch einige Anweisungen, was zu tun wäre, beantwortete ihm verschiedene Fragen bezüglich der laufenden Ermittlungen und erzählte ihm alles, was er über Cory Pheus und seine Männer wusste.
Bevor er das Büro verließ, rief er noch bei seinem guten Freund Varric an, um sich zu erkundigen, ob dieser eventuell eine Spur in der neusten Angelegenheit hätte . Eine Frau nahm seinen Anruf entgegen.
„Hallo Cassandra, Stanton am Apparat, könnte ich mit deinem Mann sprechen?"
„Oh, ich freue mich deine Stimme zu hören Stanton, und hoffe es geht dir gut, wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht hättest du Lust, mal wieder bei uns vorbeizukommen? Ich würde mich sehr freuen."
Cassandra war Varrics Ehefrau, und darüber hinaus war sie seine bessere Hälfte. Eine taffe, starke Person, die ihm immer den Rücken stärkte, egal ob privat oder geschäftlich. Nach außen sah es zwar immer so aus, als hätte sein Freund die Zügel in der Hand, aber ohne sie wäre er schon öfter auf die Nase gefallen, und hätte bei weitem nicht den Erfolg oder sein berufliches Ansehen erlangt. Sie fungierten als das perfekte Duo. Cassandra war sehr selbstbewusst und zielstrebig, sie wusste immer, was zu tun war, und ließ ihm den nötigen Freiraum dabei, den er brauchte. Außerdem war sie nicht das typische Heimchen, welches total in ihrer Frauenrolle aufgeht. Sie führte neben seinen Geschäften auch noch ihre eigene Schule der Selbstverteidigung für Frauen, gab dort wöchentlichen Unterricht in Verteidigung und unterschiedlichen Kampfsportarten. Sie war gebildet und gefährlich, zumindest für die, die es wagten, sich mit ihr anzulegen.
„Natürlich, gerne. Danke für die Einladung, du hast recht, es ist wirklich schon etwas her, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Vielleicht komme ich die Woche mal vorbei."
„Wann immer es dir passt, unsere Tür steht für dich immer offen. Ich schaue nach, wo der Kleine steckt..."

„Stanton, was kann ich für dich tun?", erklang eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Hallo mein Freund, ich weiß zwar noch keine Einzelheiten, aber Mr. Travelyan hat uns um Hilfe gebeten, also in erster Linie mich. Aber ich dachte, vielleicht könntest du auch mal deine Fühler in dieser Sache ausstrecken."
„Worum geht es?", fragte Varric aufmerksam nach.
„Es geht um Corys Bande, mal wieder. Der Inspektor vermutet eine undichte Stelle in seinen eigenen Reihen und braucht anscheinend etwas Hilfe von anderer Seite. So wie es aussieht, steht demnächst eine größere Lieferung Kokain im Hafen bereit für die Mafia, mehr weiß ich noch nicht, da ich mich erst am Montag mit ihm persönlich treffen werde, aber ich dachte, vielleicht könntest du ein paar zusätzliche Informationen, falls es dir möglich ist, in Erfahrung bringen."
„Ich werde schauen, was sich da machen lässt. Sobald ich was erfahren sollte, werde ich dich unverzüglich informieren."
„Ich danke dir."
„Nicht dafür, Löckchen, das mache ich doch gerne für dich. Vielleicht kann ich dir die Woche schon etwas darüber berichten. Wie war eigentlich dein Date gestern mit Miss Travelyan?", fragte er frech nach.
„Woher?! ... Ach, ich will es gar nicht wissen. Es war wirklich nett."
„Nett?!"
„Ja... es war mehr als nett. Bist du jetzt zufrieden?"
„Du solltest zufrieden sein, mein Freund. Es wurde auch langsam Zeit, dass du mal auf andere Gedanken kommst, und nicht immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit... Das Leben bietet einem Mann wie dir auch schöne Seiten an, also vergeig' es nicht!" Varric lachte.
„Ich werde mein Bestes geben..", beteuerte Stanton.
„Das hoffe ich für dich! Dann bis die Tage, mein Freund."
Als er das Gespräch mit Varric beendet hat, schaute er in zwei große, blaue und fragende Augen. Da sein Assistent Varric nicht kannte, musste er wohl gedacht haben, dass das Versprechen, es vertraulich zu behandeln, welches er dem Inspektor gab, wohl zu voreingenommen war.
„Keine Sorge, Mr. Ghost. Varric ist ein guter Freund, dem ich absolut vertraue und der uns bei dieser Sache bestimmt noch behilflich sein wird.", versuchte Stanton ihn zu beruhigen.
„Ich verlasse mich da ganz auf Ihre Einschätzung." Cole wirkte nun etwas entspannter.
„Wenn ich länger mit Ihnen zusammenarbeiten darf, dann werde ich die Zusammenhänge besser verstehen können und neue Verbindungen für mich knüpfen. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen, damit ich wiederum Ihnen besser helfen kann."
„ Das wird alles mit der Zeit schon nach und nach kommen, da bin ich mir sicher."

Stanton verließ sein Büro wie geplant um vierzehn Uhr. Das Wochenende stand vor der Tür, ein Wochenende, auf das er sich wirklich freute, an dem er nicht arbeiten würde, weder auf gezwungener noch auf freiwilliger Basis. Varric hatte recht, er sollte nicht immer so viel arbeiten.
In den letzten Jahren war das immer seine Priorität gewesen, aber er musste seine Detektei etablieren, sich einen Kundenstamm erarbeiten und vor allem Vertrauen zu seinen Klienten aufbauen. Die Jahre waren notwendig, um jetzt an diesem Punkt zu sein, an dem er war. Er war stolz auf sich, dass er das alles alleine geschafft hatte und dass es momentan besser lief, als er es erwartet hatte. Zusätzlich hatte er sogar Hilfe, Cole machte seine Arbeit wirklich hervorragend und war immer bemüht, sich weiterhin zu verbessern. Und das Allerbeste war Mia, die zwar durch merkwürdige Umstände in sein Leben getreten war, aber, wie seine Mutter schon immer sagte: ... Es gibt nichts Schlechtes, was sich nicht ins Gute wenden könnte...
Stanton hoffte aus tiefstem Herzen, das sie auch bleiben würde, etwas länger bleiben würde, vielleicht sogar für immer.

Auf dem Heimweg überlegte er, was er für den morgigen Ausflug besorgen könnte, denn schließlich würden sie eine Weile wegbleiben und die eine oder andere Kleinigkeit zu essen oder zu trinken wäre schon angebracht.
Er entschied sich für frisches Obst und einen guten Weißwein. Am nächsten Morgen würde er zusätzlich beim Bäcker frische Croissants und andere Backwaren besorgen.
Abends stellte er einen kompletten Picknickkorb mit allem zusammen, was sie so brauchen könnten.
Bevor er völlig entspannt zu Bett ging, legte er eine ruhige Blues-Schallplatte auf und genehmigte sich noch ein Glas Rotwein auf seinem Balkon.
Der Himmel war ungewöhnlich klar, kein Windhauch war zu spüren, und der Lärm der pulsierenden Stadt unter seinen Füßen verstummte langsam in die Abendruhe. Stanton atmete tief ein und dachte an den morgigen Tag. Er hoffte darauf, dass es diesmal nicht wirklich das letzte Treffen mit Mia sein würde und dieser Ort, an den er sie morgen entführen dürfte, ihr auch so gefallen würde wie ihm selbst.
Er dachte an seine Mutter, die diese wunderbare junge Frau nie kennenlernen würde, daran, wie sehr er sie gerade in solchen Situationen vermisste und welchen Rat sie ihm wohl geben würde. Obwohl er mit achtundzwanzig Jahren ein erwachsener und selbstständiger junger Mann war, fühlte er sich manchmal sehr einsam, sie fehlte ihm. Er vermisste es, wie sie ihn Cullen nannte, wie weich und sanft dieser Name über ihre Lippen kam, und wie sie ihn dabei angesehen hat. Seine Mutter hatte ihn alles gelehrt, worauf es im Leben ankam. Bescheidenheit und Großzügigkeit, Geduld und Respekt für andere Menschen, und vor allem sollte er immer auf sein Herz hören. 'Mit dem Herzen sieht man besser', hat sie immer gesagt. 'Höre tief in dich hinein und du bekommst alle Antworten, die du brauchst', waren ihre letzten Worte gewesen...
Damals verstand er das nicht, aber jetzt, im Laufe der Zeit, wurde ihm dieser Rat immer bewusster.

Am nächsten Morgen weckten ihn die ersten Sonnenstrahlen, die durch das große Balkonfenster auf sein Bett fielen. In dem einfallenden Licht schimmerten kleine Staubpartikel wie silberner Mondstaub. Es versprach ein sonniger Tag zu werden, das perfekte Wetter für den geplanten Ausflug.

Noch vor zwei Wochen hätte er nie daran gedacht, dass er heute an seinen Lieblingsplatz fahren würde, und schon gar nicht mit einer bezaubernden Frau.
Nach einer ausgiebigen Dusche überlegte er, ob er sich ausnahmsweise am Wochenende rasieren sollte, entschied sich dann allerdings doch dazu, mit seiner Tradition nicht zu brechen. Der Vormittag verlief ruhig und Stanton nutze die Zeit, um auf den Friedhof zu fahren und seine verstorbene Mutter zu besuchen. Er brachte ihr frische Blumen, säuberte den Grabstein und erzählte ihr in Gedanken, welche Veränderungen in sein Leben getreten waren. Er tat das regelmäßig und hatte danach immer ein besseres Gefühl, so als ob er wirklich mit ihr gesprochen hätte.

Nachdem er beim Bäcker die letzten Kleinigkeiten für den Nachmittag besorgt hat, fuhr er zum Travelyan-Anwesen. Als er gerade seinen Wagen verlassen hatte und sich auf dem Weg zum Eingang der prächtigen Villa befand, bemerkte er einen Mann hinter sich, der ebenfalls in diese Richtung ging.

„Guten Tag Mr. Rutherford, welch eine Überraschung. Wollen Sie zu mir? Ich bin mir sicher, wir sind für morgen vormittag verabredet", hörte er eine angenehme, jedoch überraschte Stimme hinter sich.
„Guten Tag Inspektor, nein, ich komme ihre Schwester abholen, wir sind verabredet."
Dorians grünblaue Augen verzogen sich zu einem Schlitz, er verschränkte seine Arme und musterte Stanton einen kurzen Moment.
„Ach, ich verstehe, Sie sind also der Grund, weshalb ich heute auf meine kleine Schwester verzichten muss", - während er weitersprach, zwirbelte er seinen dunklen Schnurrbart - „ normalerweise müssen die Männer, die mit meiner Schwester ausgehen wollen, erst einmal an mir vorbei."
„Müssen sie nicht, Dorian!" Mia öffnete die Eingangstür und stand direkt hinter Stanton, der in diesem Moment etwas überfordert schien.
„So, so... da hören Sie es, müssen sie nicht", wiederholte Dorian mit einem leichten Grinsen im Gesicht. „Sie haben Glück, dass ich Ihnen zumindest bislang noch vertraue, und ich würde an Ihrer Stelle dieses Vertrauen nicht ausnutzen." Dorian machte sich noch imposanter, indem er seine Brust wölbte und dabei auf seinen Füßen hin und her wippte.
„Sie müssen sich keine Sorgen um Ihre Schwester machen, Mr..."
Stanton konnte den Satz nicht mehr beenden, denn Mia ergriff wieder das Wort: „Was fällt dir eigentlich ein, Bruderherz? Ich denke, mit Mitte zwanzig bin ich durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, mit wem ich ausgehen möchte. Ignorieren Sie ihn einfach, Stanton." Sie wollte eigentlich weitergehen, aber Stanton stand wie angewurzelt da.
„Und was ist das für ein Aufzug, meine Liebe?" Dorian begutachtete seine Schwester von oben bis unten.
Sie trug eine Hose. Eine gerade geschnittene, graue Nadelstreifenhose, die mit einem hohen, korsettähnlichen Bund ihre schmale Taille betonte. Dazu eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln, die zur Hälfte in der Hose verschwand und am Hals eine Schleifenbindung hatte.
Obwohl es nicht außergewöhnlich war, dass Frauen auch Hosen trugen, war es für Dorian anscheinend ein ungewohntes Bild.
„Milena Viktoria Travelyan, wohin geht es denn?", fragte Dorian neugierig.
Stanton hörte zum ersten Mal ihren vollen Namen und grinste verstohlen über das Verhalten von Dorian.
Mia rollte die Augen. „An einen See, und wir müssen jetzt los. Du verhältst dich unmöglich und ich bin froh darüber, dass du heute hier bleiben musst." Sie wollte ihm gerade den Rücken zudrehen und zum Auto laufen, als sie bemerkte, dass ihr Mantel fehlte.
„Ich bin gleich wieder da", sagte sie und verschwand wieder im Haus.
„An welchen See bringen Sie meine Schwester?", fragte Dorian nun Stanton weiter aus.
„Das ist nicht weit von hier, circa eine drei viertel Stunde Autofahrt entfernt. Und ich versichere Ihnen, ich werde sie heil wieder nach Hause bringen."
„Davon gehe ich doch aus." Dorian schaute immer noch skeptisch. „Vielleicht wollen Sie vorher noch kurz hereinkommen?", fragte er höflich nach.
„Vielen Dank, ein anderes Mal vielleicht." Stanton hoffte, dass er tatsächlich irgendwann die Gelegenheit bekommen würde, dieses Haus zu betreten.
Mia stürmte mit ihrem Mantel über dem Arm wieder heraus und schnappte nach Stantons Hand, um ihn endlich von Dorian loszureißen.
Obwohl er etwas überrascht war über diese Berührung, musste er ihr trotzdem folgen. Bevor beide den Wagen erreichten, drehte sich Stanton noch einmal um und sah, wie Dorian mit zwei Fingern zuerst auf ihn, dann auf seine eigenen Augen und schließlich wieder auf ihn zeigte.
Es war ihm fast egal, Mia hielt seine Hand.

Stanton nahm den Mantel und ihre Handtasche, hielt ihr die Autotür auf und verstaute die Sachen anschließend im Kofferraum.
„Sie müssen meinen Bruder entschuldigen, ich weiß auch nicht, warum er sich so aufgespielt hat", versuchte sie zu erklären, als er ebenfalls im Auto saß. "Bei Josephine hat er sich nie so verhalten, zumindest habe ich das so nie empfunden, aber meine Schwester steht auch kurz vor ihrer Hochzeit."
„Kein Problem, ich kann ihn verstehen, er macht sich eben Sorgen um Sie."
„Ja, übertriebene Sorgen. Nur, weil ich die Jüngste von uns dreien bin."
Mia schaute aus dem offenem Fester und ihr Pferdeschwanz wirbelte im Fahrtwind. Sie sah etwas verspielter aus mit dieser Frisur und den zwei Haarsträhnen, die zu kleinen Schnecken an der Stirnseite gesteckt waren. Nur ganz dezentes Make up betonte ihre langen, dichten Wimpern, die zarte Schatten auf ihre hohen Wangen warfen. Ihre vollen Lippen schimmerten in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster kamen, und sie duftete nach Maiglöckchen. Stanton konnte sich kaum auf die Straße konzentrieren.

„Ich bin so gespannt auf diesen See, das Wetter ist heute so herrlich, ich muss den Sonntag nicht auf dem Anwesen mit der High Society verbringen, und...", sie schaute auf Stanton, der ihren Blick eher fühlen als sehen konnte, „..ach,.. alles ist perfekt."

Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto grüner, intensiver und lebendiger erschien ihm die Natur, mit jedem gefahrenen Kilometer fühlte er sich befreiter und glücklicher.
„Ihr vollständiger Name lautet also Milena Viktoria Travelyan?", fragte Stanton nach.
Mia kräuselte etwas ihre Nase: „Das stimmt zwar, aber ich bevorzuge Mia. Nur meine Eltern nennen mich Milena, und Viktoria nach meiner Großmutter, die aber leider nicht mehr lebt. Ich nannte sie immer Nana, sie war mir die liebste Person der gesamten Familie, fast meine ganze Kindheit und Jugend wurde durch sie geprägt. Sie konnte immer so tolle Geschichten erzählen, die ich zwar heute nicht mehr alle glauben würde, aber als Kind hing ich jedes Mal an ihren Lippen. " Mia geriet ins Schwärmen, als sie von ihrer Großmutter erzählte. „Nehmen wir als Beispiel für ihre Geschichten meinen Mantel. Den habe ich von ihr vererbt bekommen, weil ich ihn schon als kleines Mädchen immer getragen habe, ich fand den Kragen so außergewöhnlich und die Farbe des Stoffes. Damals war mir dieser Mantel viel zu groß, und ich fühlte mich damit wie eine Prinzessin. Ich habe ihn mir um die Schultern geworfen und stolzierte damit über unser Anwesen wie über einen Burghof. Meine Nana lachte immer darüber und sagte: 'Du bist die Nächste, nach der dieser Mantel ruft, und deshalb wirst auch nur du ihn von mir bekommen.' Als ich älter war, habe ich sie gefragt, woher sie diesen Mantel hat, und sie erzählte mir dazu eine von ihren, sagen wir mal, märchenhaften Geschichten."
Stanton hörte aufmerksam zu, denn auch er hatte ein merkwürdiges Gefühl bei diesem Kleidungsstück.
„Dazu muss ich noch sagen, dass meine Nana viel gelesen hat und eine blühende Fantasie hatte. Sie erzählte mir, sie hätte diesen Mantel von ihrer Großmutter bekommen und diese wiederum hatte ihn von ihrer Großmutter und so weiter. Allerdings war dieser Mantel nicht schon immer ein Frauenmantel gewesen, und der Stoff, der über die Jahre immer abgetragener wurde, ist bis auf die ähnliche Farbe nicht mehr original. Der Kragen allerdings schon. Ursprünglich soll es sich bei diesem Kleidungsstück um einen Umhang gehandelt haben, den man über einer Rüstung getragen hat. Meine Nana liebte alles, was mit Rittern und Drachen zu tun hatte. Deswegen, vermute ich, hat sie mir das auch so erzählt." Mia musste lachen. „Ich liebte ihre Geschichten. Und ich liebe diesen Mantel, nicht nur weil er von ihr ist, sondern weil ich so gerne den Kragen berühre und mir dabei einen Kommandanten einer Armee vorstelle, der diesen Umhang bei seinen Schlachten getragen hat."
„Das ist eine wundervolle Geschichte, und jedes Mal, wenn Sie ihn tragen, denken Sie an ihre Großmutter. Es ist schön, etwas zu besitzen, das einen an eine liebe Person erinnert, und es ist ein Familienerbstück. So oder so", bestätigte Stanton.
„Das ist nicht die einzige Geschichte, die ich Ihnen von meiner Nana erzählen könnte", fügte sie hinzu, „aber ich denke wir sind bald da, oder?"

In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt