Kapitel 16

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„Wie bist du eigentlich hierher gekommen?", fragte Stanton beim verspäteten Frühstück. Er konnte nicht leugnen, dass er wirklich glücklich über ihren Besuch war. Ihre Nähe, nach der er sich die ganzen Tage über so sehnte, hatte ihm wirklich gut getan.
Mia zögerte etwas mit ihrer Antwort, von der sie schon ahnte, dass sie ihm missfallen könnte.
„Mit einem Taxi", antwortete sie fast lautlos und blickte leicht angespannt zu Boden.
Stanton schüttelte seinen Kopf. Obwohl er ihr lieber rügend eine Predigt gehalten hätte, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Mit einem Taxi? Ich habe zumindest gehofft, dass dich dein Bruder gefahren hat."
Mia zuckte mit den Schultern, „Ich musste dich sehen", sie blickte so ehrlich in seine Augen, dass er wahrlich nichts mehr dagegen sagen konnte. Sie stand vom Esstisch auf, umrundete diesen und setzte sich auf Stantons Schoß.
„Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich weiß, dass es gefährlich war, aber ich musste dich einfach sehen." Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und streichelte über seine nackten Unterarme, soweit wie es sein hochgekrempeltes Hemd erlaubt hatte. „Du kannst jetzt wohl nicht behaupten, dass du meine Ungeduld in diesem Fall bereust."
Stanton musste noch mehr lächeln, „Das kann ich wohl nicht. Da hast du völlig recht, aber diese Aktion war wirklich riskant."
„Vielleicht, aber es ist nichts passiert."
Er vergrub seine Nase in ihren Haaren, die nach Lavendel dufteten, und flüsterte: „Wir sollten jetzt so langsam aufbrechen, und wenn du weiter so auf meinem Schoß hin und her rutschst, dann kann ich für nichts garantieren."
„So verlockend wie diese Drohung auch ist, hast du leider recht, denn wir sollten unbedingt vor Dorian ankommen, der sich sonst wohl fragen würde, wo ich bin. Es weiß nämlich niemand, wo ich bin."
Stanton konnte nur hoffen, dass diese Annahme stimmte.


Das Wetter lockerte sich immer weiter auf und es versprach ein schöner und sonniger Tag zu werden. Sobald sie sich im Wagen befanden, suchte Mia seine direkte Nähe und begann damit ihm alles nach und nach, detailliert zu erzählen.
Zunächst von der Nachricht ihrer Nana, die ihre Schwester Josephine ihr übergeben sollte, sobald sie das Gefühl hatte, dass Mia wirklich verliebt war. Stanton machte die Tatsache, dass er anscheinend der Erste war, für den sie diese Gefühle hegte, sowohl stolz als auch leicht verlegen. Darüber hinaus wusste er, dass es ihm selbst ebenfalls so ergangen war. Sie erzählte ihm von dem zusammengerollten Gemälde, welches sie in der Drachenstatue gefunden hatte, auf der ihre Urgroßeltern zu sehen waren, die sowohl ihr selbst als auch ihm glichen. Stanton konnte sich diesen merkwürdigen Zufall nicht erklären, einen Verwandtschaftsgrad zu ihrem Urgroßvater konnte er jedoch ausschließen.
„Wer ist dieser Erbauer, von dem deine Großmutter geschrieben hatte?"
„Das weiß ich nicht. Aber du hast ihn gestern selbst erwähnt", antwortete sie und blickte ihn fragend von der Seite an.
Stanton dachte kurz nach, „Ich? Habe ich das? Wann denn?"
„Als du mir noch im Halbschlaf die Tür aufgemacht hattest. Da sagtest du etwas wie: Beim Atem des Erbauers. Erinnerst du dich?"
„Ehrlich gesagt nicht. Bist du dir sicher, dass ich so etwas gesagt habe?"
„Ich bin mir ganz sicher, denn mein Bauch hat sich dadurch ganz kurz zusammengezogen. Das war das zweite Mal, dass mir dieses Wort überhaupt begegnet ist."
„Merkwürdig. Aber vielleicht war es das Zeichen, auf das du gewartet hast."
Mia umklammerte seinen Oberarm, „Ich wüsste es auch ohne Zeichen, dass du was ganz besonderes für mich bist. Außerdem wird alles noch viel merkwürdiger."
Sie erzählte ihm von der geheimnisvollen Truhe, die sie im Garten fand, von den Gegenständen, die sie darin entdeckte und den Dachbodenfunden. Von ihren Gefühlen, Gedanken und Visionen, die sie hatte, als sie das große, alte Buch in ihren Händen hielt.
Stanton hörte ihr aufmerksam zu und wurde immer neugieriger darauf diese Gegenstände selbst zu sehen.
„Glaubst du mir?", fragte sie etwas unsicher, denn sie selbst musste zugeben, dass sich das Alles ziemlich seltsam angehört haben muss.
„Natürlich tue ich das. Nur weil es momentan noch keinen Sinn für uns ergibt, heißt es nicht, dass es das nicht irgendwann tun wird. Ich bin wirklich sehr gespannt auf diese Fundstücke."
Mia fiel ein Stein vom Herzen, dass er ihr geglaubt hatte. Denn nur das war ihr wichtig gewesen, weil sie ahnte, dass auch er in diese Geschichte involviert war. Inwieweit, das konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, aber dass es eine Tatsache war, davon war sie mehr und mehr überzeugt gewesen.

Mia schien sehr aufgeregt, als sie die letzte Abzweigung nahmen und sie das Haus schon aus der Ferne sehen konnte.
„Wir sind gleich da."
„Das habe ich mir gedacht", Stanton lächelte sie kurz an, „Deine Vorfreude verrät dich."
„Ich freue mich nur deshalb, weil du dieses Mal dabei bist. Ich glaube nicht, dass du dir vorstellen kannst, wie ich mich gefühlt habe, als Dorian mich hierher gebracht hat."
Stanton lachte. „Ich kann es mir fast ausmalen."
Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass ihnen niemand gefolgt war, denn er kontrollierte die gesamte Fahrt über die Fahrzeuge, die streckenweise hinter ihnen gefahren sind, und konnte keine Dauerbegleiter ausfindig machen. Mia drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, als sie vor dem großen Eisentor stehen geblieben waren, bevor sie den Wagen verließ, um das Tor aufzusperren. Stanton fuhr langsam in die Einfahrt und fühlte sich direkt wohl in dieser ihm fremden Umgebung, die er nicht als solche empfand. Er verließ das Auto und wollte sich gerade strecken, als Mia ihm fröhlich in die Arme sprang.
„Wie findest du es?", fragte sie mit einem ungeduldigen Blick in ihren Augen.
„Sehr schön. Es ist ruhig, etwas abgelegen und ich kann schon fast die Wellen hören. Der perfekte Ort um hier, mit dir, eine schöne Zeit zu verbringen." Stanton drückte sie fester an sich, strich ihr ein paar Strähnen, die mit dem Wind über ihr Gesicht flatterten, von ihrer Wange und küsste sie.
„Jetzt ist es perfekt", hauchte sie leise zwischen seine Küsse.
„Jetzt?"
„Du machst es vollkommen. Komm ich zeige dir alles." Mia wollte sich gerade von ihm losreißen, um in Richtung Haus zu laufen, als er sie am Arm packte und sie wieder zurückzog. Nicht fest, aber so, dass sie wieder auf seiner Brust gelandet war.
„Das hat noch zwei Minuten ..."



Stanton hatte sich diesen Ort nicht so wundervoll vorgestellt, wie er ihn tatsächlich erlebte. Das alte Haus strahle auf ihn eine vertraute Gemütlichkeit aus, die er schon fast als Heimkehr empfand.
Mia zog sich schnell um, während er für beide einen Kaffee aufgesetzt hatte. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder sie in diesem, etwas unpassenden Kleid für einen Sonntagnachmittag sehen konnte. Dorian hatte sich für den Nachmittag angekündigt, doch bevor er nach seiner Dienstreise dort erschienen wäre, wollte sie Stanton noch wenigstens den Garten zeigen. Sie empfand dieses Haus, welches sie eigentlich liebte, in den letzten Tagen als ein Gefängnis. Aber mit der Gewissheit, dass er unten auf sie gewartet hatte, verwandelten sich ihre Sorgen in beste Laune. Sie zog ihr rotes Lieblingskleid an, dessen leichter, schimmernder Stoff durch zwei dünne Träger auf ihren Schultern ruhte, teilte ihre Haare zum Seitenscheitel und steckte die Längen mit wenigen Nadeln hoch. Dazu trug sie eine feine Perlenkette und die passenden Ohrringe. Leichtes Make-up und elfenbeinfarbene Schuhe, mit kleinem Absatz, rundeten ihr Outfit ab.
Stanton rührte Milch in seinen Kaffee, als er sie die Treppe hinunter laufen hörte. Sein Atem stockte bei ihrem Anblick und er hätte sich beinahe verschluckt.
„Du siehst bezaubernd aus", war in diesem Moment alles, was er sagen konnte. Mias Wangen färbten sich leicht rosé, als sie langsam auf ihn zuging.
„Findest du?", fragte sie mit einem verführerischen Lächeln in ihren Augen.
Stanton nickte und lehnte sich an der Küchenarbeitsplatte an, um den nötigen Halt zu bekommen, dem ihm seine Beine in diesem Moment nicht gaben.
„Möchtest du den Garten sehen?", fragte sie grinsend und ließ einen seiner Hosenträger gegen seine Brust schnarren, um ihn aus seinen Gedanken zu befreien.
Er räusperte sich, „Gerne." Auch wenn diese Idee ihm nicht gerade durch den Kopf gegangen war.
Sie nahm seine Hand, die sich sehr warm angefühlt hatte, und zog ihn in Richtung Terrasse.
Der Garten präsentierte sich in seiner vollen Pracht. Der Duft von frischen Wildkräutern, Blumen und blühenden Sträuchern mischte sich mit dem Geruch der nicht weit entfernten See. Trotzdem drang inmitten durch diese berauschenden Düfte, Mias Parfüm in seine Nase und bescherte ihm ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Sie spazierten Hand in Hand entlang des Kieselweges, der knirschend unter seinen Schuhen nachgab. Die Sonne verlieh seinem Haar einen goldenen Glanz und Mias zarte Haut schimmerte immer wieder auf, zwischen den Schattenpartien.
Stantons Blick wurde auf den steinernen Pavillon in der Mitte des Gartens gezogen.
„Was ist das?"
„Eine Steinskulptur würde ich sagen. Was genau es darstellen soll, das weiß ich nicht." Sie traten näher heran.
Stanton erklomm die wenigen Stufen und stellte sich direkt vor den überdimensional großen Steinspiegel, der ihn selbst um mindestens zwei weitere Meter überragte.
„Daran klettern jeweils zwei Drachen hinauf", stellte er fragend fest, „Das schreit doch förmlich nach einer Geschichte von deiner Großmutter. Hat sie dir dazu niemals etwas erzählt?."
„Leider nicht. Ich habe sie sehr oft danach gefragt, aber außer: Die Zeit ist noch nicht reif, wollte sie mir nichts weiter verraten."
Er musterte genauer die Oberfläche, die einen großen Riss aufwies.
„War dieser Sprung schon immer da?"
Mia trat ebenfalls näher heran und untersuchte diesen Riss.
„Daran kann ich mich nicht erinnern,... und daran schon gar nicht!" Sie kniete sich hin und hob ein paar größere Scherben auf, die in der rechten Ecke auf dem Boden gelegen haben.
„Sieht aus, als wären sie hier herausgebrochen."
Der steinerne Spiegel wies in seiner unteren, rechten Ecke einen großen, circa vierzig Zentimeter hohen und nach unten immer breiter werdenden Spalt auf. Darunter war die Oberfläche dieser Skulptur nicht mehr aus Stein, sondern aus einem metallisch glänzenden Material. Mia tastete vorsichtig die bislang verborgene Unterschicht ab.
„Es sieht so aus, als wäre etwas darunter eingemauert worden. Die eigentliche, sichtbare Schicht ist zwar aus Stein, aber darunter ist etwas anderes."
„Was immer es ist, oder war, es wurde aus einem bestimmten Grund eingemauert. Findest du nicht, dass es auch ein Tor darstellen könnte?"
Mia blickte ihn mit großen Augen an, „Ein Tor? Aber dahinter ist doch nur der Garten. Denkst du es könnte ein Tor sein? Wo sollte es hinführen?" Sie lief auf die Rückseite der Skulptur, „Da ist nichts."


Beide bemerkten fast gleichzeitig, dass ein Wagen in die Einfahrt fuhr. Mia zuckte kurz zusammen und lief auf Stanton zu.
„Das wird wohl Dorian sein. Oh je, jetzt werde ich mir etwas anhören müssen."
Stanton legte den Zeigefinger auf seinen Mund und grinste sie an. „Pssst. Ich werde das schon regeln, keine Sorge."
„Ich mache mir keine Sorgen, denn mit meinem Bruder bin ich schon öfter fertig geworden."
Sie gingen über den Terrasseneingang zurück ins Haus, und Mia kicherte leise, bevor sie die Eingangstür geöffnet hatte. Dorian und sein Partner musterten fragend Stantons Wagen, den sie zunächst nicht zuordnen konnten, und bemerkten nicht, dass sowohl er, als auch Mia schon auf der Veranda standen. Arm in Arm. Seite an Seite. Bereit.

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