Kapitel 17

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Stanton folgte Mia in die zweite Etage, in ihr Schlafzimmer, wo sie die gefundenen Sachen versteckt hatte.
„Was möchtest du zuerst sehen? Die Waffen, den Schild, den Umhang, meine Uniform oder die Bücher?", fragte sie sichtlich aufgeregt, als sie das Zimmer betreten hatte.
„Deine Uniform?", hackte er nach, „Wieso sagst du deine Uniform?"
Mia blieb mitten im Raum stehen und schaute ihn an, „Ich weiß nicht, aber jetzt ist es auf jeden Fall meine Uniform. Sera hat darauf freiwillig verzichtet", sie grinste, „Außerdem hätte sie da sowieso niemals reingepasst. Also, was möchtest du nun zuerst sehen?"
„Eins nach dem Anderen würde ich sagen. Vielleicht fangen wir mit den Waffen an?"
Mia kniete sich neben das große Himmelbett, welches mit einer hellen, mit zarten Rosen bedruckten Tagesdecke verhüllt war, die bis zum Boden reichte.
„Die größeren Sachen habe ich hier unten aufbewahrt", deutete sie an und hob die Tagesdecke nach oben.
Stanton war sichtlich gespannt, was sie unter dem Bett verborgen hatte.
„Hast du sonst niemandem davon erzählt?"
„Nein, Sera kennt nur die Sachen, die sie mit mir zusammen entdeckt hat", sie zog als Erstes den großen Schild hervor, „Sieh mal, ist der nicht atemberaubend?"
Stanton trat näher und nahm ihr den Schild ab. Nachdem er die Vorderseite gründlich inspiziert hatte, drehte er ihn um, und positionierte ihn, mit einem festen Griff an seiner Halterung, in einer perfekten Abwehrposition.
„Hattest du schon einmal ein Schild in der Hand?", fragte Mia, nachdem sie ihm aufmerksam dabei zugeschaut hatte, und jeder seiner Bewegungen gefolgt war.
Stanton hielt kurz inne, „Nein, eigentlich nicht. Aber er liegt gut in der Hand, hat die perfekte Größe, um alle wichtigen Körperteile zu schützen, und ich könnte mir vorstellen, dass er schon einige Hiebe abgefangen hat", er drehte ihn wieder mit der Vorderseite zu sich, „Siehst du die ganzen Spuren, Kratzer und Dellen auf seiner Oberfläche? Die deuten eindeutig darauf hin, dass er in Gebrauch war. Dieses Zeichen hier,...", seine Finger tasteten das Relief ab, „ ... dieses Auge, mit den Strahlen, welche nach unten auslaufen, hast du das schon mal gesehen?"
„Es ist das gleiche Symbol, wie auf dem Buchdeckel. Aber das schauen wir uns später an. Es gibt noch ein Schwert dazu, zumindest habe ich beide Sachen zusammen in der Truhe gefunden." Sie nahm als Nächstes das Schwert hervor, „Leider ist es nicht mehr in einem so guten Zustand, da die Spitze fehlt."
Stanton betrachtete die Stichwaffe, die sie flach liegend, mit ihren beiden Händen stützend, präsentierte.
„Sei vorsichtig, es scheint noch scharf zu sein", warnte er sie.
„Hier bitte, sieh es dir ruhig genauer an."
Er nahm das Schwert am Knauf entgegen, welcher für seine Hand genau die richtige Größe zu haben schien. Seine Finger umklammerten, mit Leichtigkeit, den in rotes Leder eingebundenen Griff. Stanton hatte das Gefühl, diese Waffe nicht zum ersten Mal in seinen Händen zu halten, aber es erschien ihm zu voreilig darüber zu sprechen. Er hatte vorher noch nie ein Schwert geführt, und doch fühlte es sich vertraut an. Ganz locker, aus dem Handgelenk heraus, machte er fließende, kreisende Bewegungen.
„Na, wie steht mir so ein Schwert?", fragte er mit einem Lächeln.
Mia sah ihm beeindruckt dabei zu, wie sicher er die Waffe führte und welchen geheimnisvollen Blick er dabei hatte. Der Anblick schien für sie stimmig.
„Du siehst aus, als hättest du nie etwas anderes gemacht, wie ein Ritter, jedoch ohne Rüstung."
Stanton hielt das Schwert, nach oben gerichtet, vor sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen und seine Stirn berührte das kalte Metall. Wie zarte Nebelschleier aus dem Nichts drangen unklare Bilder in seinen Verstand. Weit entfernte Geräusche wurden immer lauter und deutlicher. Wie in Trance hörte er Rufe, zunächst als Flüstern, welches sich nach und nach in Schreie wandelte. Der klirrende Klang von Metall, von aufeinander schlagenden Schwertern, ließ ihn kurz zusammenzucken.
Mia hatte nach wenigen Sekunden bemerkt, dass er abwesend schien. Sie erhob sich vom Boden und ging auf ihn zu.
„Stanton?", fragte sie mit leiser Stimme.
Er hatte sie zunächst nicht gehört. In seinen Kopf drang eine andere Stimme, eine drängende Stimme, die seinen Namen rief: „Kommandant! Kommandant Cullen, Ihr werdet gebraucht!! Ihr müsst sie alleine lassen! Er kommt, er kommt ... Haven wird fallen!"
Stanton fühlte tiefe Wut und Verzweiflung seine Glieder hinaufsteigen, eine trostlose Leere, und, wie er mit sich haderte das Richtige zu tun. Kalter Schweiß lief seinen Rücken entlang. Er hielt das Schwert fest umklammert, seine Atmung hatte sich beschleunigt, und seine geschlossenen Augenlider zuckten, als ob er träumen würde.
Mia hielt ihn an seinen Schultern fest und versuchte ihn zu beruhigen.
„Stanton!", sie schüttelte ihn leicht, „Stanton! Bist du da?"
Plötzlich schlug er seine Augen wieder auf und blickte verwirrt in ihr Gesicht. Er hatte immer noch den Geruch von Feuer und Schwefel in der Nase.
„Wo bin ich?", fragte er mit trockener Stimme und blickte entsetzt in ihre Augen, „Milena! ... Ihr seid hier?"
„Wo soll ich denn sonst sein? Wo warst du? Was hast du gesehen?", fragte sie überrascht, und schaute ihn sorgenvoll an.
„Ich ... ich weiß es nicht, ... mir ist etwas schwindlig." Sein Verstand konnte die gegebene Situation noch nicht ganz zuordnen.
„Komm, setz dich aufs Bett." Sie nahm ihm die Waffe ab und setzte sich neben ihn. Ihre Hände umfassten sein Gesicht, „Du bist hier bei mir, in Sicherheit", Stanton unterbrach sie, „Seid Ihr ...", er korrigierte sich, „Bist du in Sicherheit?" Sein Blick in ihre Augen war ängstlich jedoch erleichtert.
„Natürlich bin ich das. Du bist doch hier, bei mir", Mia lächelte ihn an, „Beruhige dich erst mal, und dann erzählst du mir was du gesehen oder gefühlt hast."
Sie umarmte ihn und spürte, wie er weiterhin zitterte.
„Musstest du kämpfen? Hattest du Angst davor?"
Er löste sich aus ihrer Umarmung und schaute ihr in die Augen, „Nein", sagte er ganz entschieden, „Ich hatte keine Angst zu kämpfen, ich ... ich hatte Angst dich zu verlieren, dich nie wieder zu sehen." Sein Augen schauten verloren nach unten.
Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und suchte seinen Blick, „Ich bin doch hier", sagte sie ganz sanft und küsste seine glühende Stirn, „Das war nur eine Fantasie, oder Vision, oder was auch immer es war, es ist nicht real. Ich habe dir doch erzählt, dass auch ich solche Momente erlebt habe, als ich in dem großen Buch geblättert habe. Ich weiß, das ist sehr verwirrend, und vielleicht macht es dir im ersten Moment sogar Angst, aber wir sind hier. Verstehst du?"

Erst langsam kam er wieder zu Ruhe. Er hatte schon öfter Träume gehabt, Träume von Schlachten, von schrecklichen Kreaturen, die nach seinem Leben trachteten, aber so eine Erfahrung hatte er vorher noch nicht gemacht.
„Ich hatte keine Angst um mich, ich hatte Angst um dich. Ich wollte bei dir bleiben, dich beschützen ... aber meine Pflicht verlangte von mir, dass ich woanders mehr gebraucht werde", er stockte kurz, „Das ergibt doch eigentlich keinen Sinn, oder? Ich meine, dass wir beide so etwas erleben, solche Visionen haben."
„Darauf kann ich dir nur dieselbe Antwort geben, die du mir im Garten gegeben hast. Nur weil es momentan noch keinen Sinn ergibt, heißt es nicht, dass wir es nicht irgendwann begreifen werden. Und du bist sicher, dass ich dort war?"
„Ja, das bin ich zu hundert Prozent. Auch wenn es nur ein Traum gewesen sein soll, du warst ein Teil davon, ein sehr wichtiger Teil sogar."
Dies Verlustangst, die noch tief in seinen Gedanken steckte, in Bezug auf sie, war das Einzige was ihn beschäftigte. Stanton massierte seine Schläfen, „Ich habe leichte Kopfschmerzen. Möchtest du mir noch die anderen Sachen zeigen?"
„Ein anderes Mal, oder später", sie stand vom Bett auf und reichte ihm die Hand, „Komm, lass uns etwas am Strand spazieren gehen. Die frische Luft tut dir jetzt bestimmt gut."



Der Abend hatte noch nicht seinen schützenden Mantel der Dunkelheit ausgebreitet. Die sich allmählich orange färbende Sonne spendete angenehme, warme Strahlen; der kühle Sand unter seinen Füßen und Mia an seiner Hand beruhigten ihn zusehends. Die Erinnerungen an das soeben Erlebte verblassten gegen die in diesem Moment aufkommenden Gefühle. Sie war bei ihm, da, wo er sie haben wollte, an seiner Seite, wo er sie brauchte.
Sie gingen eine ganze Weile schweigend Hand in Hand am Ufer entlang. Jeder Wellenschlag des kühlen Wassers spülte einen weiteren seiner dunklen Gedanken davon. Er wollte diesen Augenblick genießen, die Zeit anhalten, dort, in der ihm sich bietenden Ruhe und Schönheit der Natur.
„Dieser Ort hier ist etwas Besonderes", sagte er und zog sie näher an seine Seite, „Wem gehört dieses Haus jetzt eigentlich, nach dem Tod deiner Großmutter?"
Mia legte ihren Arm um seine Hüfte, „Wenn du es genau wissen willst, dann gehört das Alles hier mir."
„Dir? Ganz allein?"
„Ja. Meine Nana hat mir dieses Haus und das Grundstück hier vererbt. Sie meinte, dass nur ich das Recht hätte, es zu besitzen. Ich habe das erst erfahren, nachdem ihr Testament vorgelesen wurde. Meine Eltern, vor allem meine Mutter waren zunächst überrascht, aber ich habe sie damit beruhigt, dass ich nicht vorhabe es zu verkaufen und sie dieses Haus gerne weiterhin nutzen dürfen."
„War es schon immer im Besitz deiner Familie gewesen?"
„Soweit ich weiß, hat es mein Urgroßvater gebaut. Wir haben es dann nach und nach modernisiert, auch wenn natürlich noch nicht alles dem angemessenen Standard der Familie Trevelyan entspricht", sie lachte, „Aber ich finde es hat seinen eigenen Charme und ich fühle mich hier sehr wohl."
„Das kann ich verstehen. Ich fühle mich hier auch sehr wohl", bestätigte er.

In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt