Kapitel 40

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Bis in den späten Nachmittag hinein hatten sie das Tagebuch gelesen und verinnerlicht. Mit jeder Seite, die beide mit Spannung und Eifer studiert hatten, kamen auch ihre Erinnerungen an die darin beschriebenen Ereignisse zurück. So, als ob sie diese ganze Geschichte selbst erlebt hätten. Wahrscheinlich wohnte diesen Zeilen ebenfalls eine Art Magie inne, die beiden nach und nach ihren vergangenen Lebensweg schilderte und gleichzeitig auch die Erinnerungen daran zurückbrachte. Am Ende waren die Geschehnisse des vergangenen Lebens genauso stark in ihrem Bewusstsein vorhanden wie die ihres jetzigen Daseins.
Sie erfuhren Stück für Stück, was damals passiert war. Von dem Tag an, als Milena Trevelyan das Konklave als einzige überlebt hatte, und dieses Ereignis ihr ganzes Leben dadurch veränderte, dass sie von dem Zeitpunkt an durch das leuchtend grüne Mal auf ihrer Handfläche gezeichnet wurde. Göttliche Fügung, Magie oder purer Zufall? Das konnte niemand mit Sicherheit sagen. Trotzdem glaubten die Menschen, Qunari, Elfen und Zwerge daran, dass sie die Auserwählte war. Der Herold Andrastes, eine Gesandte des Erbauers selbst, mit der Gabe, die klaffende Bresche am Himmel zu schließen und Corypheus ein für alle Mal zu besiegen.
Sie wurden darüber in Kenntnis gesetzt, wie die Inquisition wieder ins Leben gerufen wurde, und was es bedeutete, ein Teil davon zu sein. Eine Gemeinschaft von vielen Verbündeten, Mitgliedern, Freiwilligen und Helfern, die zusammen die Weltordnung wieder herstellten, die der selbst ernannte Gott zerstören wollte, um eine neue und eigene Herrschaft anzustreben.
Die Inquisitorin war die Hoffnung für viele und die Anführerin dieses Bündnisses. Gestützt durch ihre drei Berater, von denen einer Kommandant Cullen Stanton Rutherford war, der Anführer ihrer Truppen, und mit Hilfe ihrer engsten Verbündeten kämpfte die immer stärker werdende Inquisition gegen das Übel, welches Corypheus ihnen entgegensandte.
Mit jeder Schlacht, jedem Feldzug und jedem kleinen Sieg wuchsen die Freundschaft und das Vertrauen zueinander. Die anfänglichen Verbündeten wurden zu Freunden, zu einer Art Familie, die jedes Mitglied zu schätzen gelernt hatte, denn alleine konnte man diese Mammutaufgabe nicht bewältigen. Zu den Beratern zählten, außer Cullen, ebenfalls noch Josephine, eine adelige Diplomatin, deren Stärke in geschickten Verhandlungen, Bündnisfragen und im gekonnten Umgang mit dem Adel lag, sowie Leliana, die Meisterspionin, die überall ihre Augen und Ohren hatte, um das Bündnis rechtzeitig vor kommendem Schaden zu bewahren oder zu warnen. Diese drei bildeten zusammen mit Milena den Rat, tagten, planten Strategien und entschieden gemeinsam über das weitere Vorgehen.
Darüber hinaus gab es noch Gefährten, die gemeinsam mit ihr in die Schlacht zogen. Einer davon war Dorian Pavus, ein Magister des Tevinter Imperiums. Ein sehr talentierter Magier, der zu den engsten Vertrauten der Inquisitorin zählte, genauso wie Sucherin Cassandra Pentaghast, eine überaus fähige Nahkämpferin, die mit Schwert und Schild ganze Horden von Feinden niederstrecken konnte. Sera, die eigensinnige Elfe, die jedoch eine treffsichere Bogenschützin und somit eine unverzichtbare Fernkämpferin war, wie auch der Zwerg Varric, der mit seiner Armbrust 'Bianca' ein unzertrennliches Team bildete. Auch ein Grauer Wächter, Blackwall genannt, obwohl er mit bürgerlichen Namen Thom Rainier hieß, gehörte zu den Verbündeten. Für ihn standen Ehre und Kampfgeist an erster Stelle. Der Eiserne Bulle, ein Qunari-Krieger mit einer Schwäche fürs Drachentöten und Feuerwasser, der zudem eine kleine, eigene Gruppe von Sturmbullen anführte. Und natürlich Cole, ein Meisterschurke mit einem Faible für Dolche, der weder Mensch noch Geist war. Dazu kamen noch zwei weitere Magier, Solas, ein elfischer Abtrünniger, ein Experte in allen Dingen rundum das Nichts, und Vivienne, die orlesianische Großverzauberin und Beraterin der Kaiserin. Diese neun Begleiter bildeten den inneren Kreis. Darüber hinaus fand die Gemeinschaft in ihrer schwersten Zeit auch neue Verbündete. Einer davon war der Elf Zevran, ein ehemaliges Mitglied der Krähen von Antiva, der bisweilen seine Hilfe anbot. Über jeden von ihnen gab es ein eigenes Kapitel, in dem sie beschrieben wurden, aber über den Kommandanten gab es darüber hinaus noch viel mehr zu erfahren. Das Tagebuch entschlüsselte ihre gesamte durchlebte Liebesgeschichte bis zu dem Tag ihrer Hochzeit, die am letzten Abend, bevor sie Thedas endgültig durch den Eluvian verließen, in der Kapelle stattgefunden hatte.
Diese Flucht war die einzige Möglichkeit, ein Versuch mit unbekanntem Ausgang, zu dem sie gezwungen wurden, denn Corypheus gelang es mit Hilfe von Magister Gereon Alexius durch einen hinterhältigen Plan, die Zeit zu überlisten, und sowohl Milena als auch Dorian für ein Jahr aus der Welt zu verbannen. Ein Jahr, indem die Zeit ohne die beiden weiter lief, und in der die Herrschaft des neuen Gottes so stark anwuchs, dass ein Sieg nach ihrer Rückkehr einfach unmöglich erschien. Der ursprüngliche Plan von Dorian, die Zeitschleife zu durchbrechen und das Jahr ungeschehen zu machen, scheiterte, weswegen ein neuer Notfallplan ausgearbeitet werden musste.

In dieser Zeit der Abwesenheit, die beide nur als wenige Stunden empfanden, hatte sich die Welt von Thedas gravierend verändert. Die Bresche am Himmel nahm fast unendliche Dimensionen ein; die Risse, aus denen immer mehr Dämonen und dunkle Kreaturen emporgekrochen kamen, ließen sich nicht mehr kontrolliert schließen. Auch die Inquisition erlitt starke Verluste und musste zahlreiche Tote beklagen, unter denen auch Leliana und Vivienne waren. Solas war spurlos verschwunden, und die anderen, die das Jahr durchleben mussten, waren stark davon gezeichnet und geschwächt worden.
Nach dieser langen Zeitspanne hatten die übrigen Überlebenden fast jede Hoffnung aufgegeben, sowohl Milena als auch Dorian jemals wieder lebend zu sehen. Für Cullen war es das schlimmste Jahr seines Lebens, in dem ihn eine kaum auszuhaltende Ungewissheit plagte. Umso überraschender war es für alle, als die beiden dann doch zurückkehrten.
Weitere sechs Monate, während derer das Leben alles andere als leicht war, hatte Dorian gebraucht, um einen erneuten Schachzug gegen Corypheus auszuarbeiten. Dieser Plan war die letzte und einzige Hoffnung für alle noch lebenden Bewohner von Thedas, die sich nicht dem Übergott unterwerfen wollten.
Auch wenn der Plan mehrmals diskutiert und abgewogen wurde, entschieden sie gemeinsam, es zu versuchen. Sogar in Anbetracht dessen, dass sie sich dafür freiwillig opfern mussten, denn die Ausführung erforderte Blutmagie.
Blutmagie, die ihren Preis hatte, nämlich den Tod.
Den Tod derer, die nicht durch das Portal gehen konnten, zumindest nicht körperlich, denn ihre Seelen wurden durch einen mächtigen Zauber miteinander verbunden.
Auf Milena, Cullen und Cole ruhte somit der letzte Hauch einer kleinen Chance auf einen fernen Sieg, von dem Moment an, als sie den Eluvian betraten.


„Ich kann mich daran erinnern", sagte Mia, während sie das Tagebuch ehrfürchtig schloss. Ihre Stimme klang heiser. „Ich kann mich daran erinnern, wie sie alle für uns gestorben sind", wiederholte sie leise, als die ersten Tränen sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten.
Stanton nahm sie fest in seine Arme und küsste ihre Stirn. „Ich weiß. Es war schrecklich. Sie haben sich für uns geopfert. Haben das Wertvollste, was sie hatten, für uns hingegeben, damit wir irgendwann wieder zurückkehren und sie alle retten können...", er klammerte sich an ihr fest, denn in seinem Innern tobte ein heftiger Krieg zwischen seinem Gewissen und seinen Gefühlen, „...falls wir... falls wir das..."
Mia unterbrach sein unsicheres Stottern. „Wir müssen!", presste sie bestimmend heraus. „Was wären wir für Menschen, die ihr eigenes Glück über das der anderen, über das einer ganzen Welt stellen würden?"
Stantons Herz schlug hart gegen seine Rippen. Er schloss die Augen und vergrub seine Nase in ihren Haaren. Ihm war klar, dass sie recht hatte. Ihm war klar, dass sie es tun mussten, ihm war sogar klar, dass es ihre Bestimmung war, aber trotzdem hatte er damit zu kämpfen, denn er wusste, dass dieses Leben damit enden würde, dass er sie vorerst aufgeben, dass er alles, was er liebte, aufgeben musste.
Er fasste sie an den Schultern, drehte sie zu sich und blickte ihr tief in die Augen. Augen, die seine ganze Welt waren, in die er sich vom ersten Augenblick an verliebt hatte.
„Ich weiß, das können wir nicht, aber..." Er stockte. Bitternis glänzte in den Tränen, die über ihre Wange liefen, und er wischte sie liebevoll mit dem rechten Daumen fort. „Beim Erbauer!" Seine Hände legten sich um ihr Gesicht. „Ich liebe dich so sehr. So sehr, dass es manchmal wehtut." Er ließ sie nicht sprechen, denn seine Lippen pressten sich voller Hingabe auf ihren Mund, dessen süßer Geschmack durch eine leicht salzige Note unterbrochen wurde.
„Ich liebe dich auch", hauchte sie nach einer Weile, „ ... und ich habe furchtbare Angst." Ihr Körper drängte sich zurück an seine Brust, schmiegte sich erneut in seine Arme, und Stanton spürte, wie sie zitterte.
Sie so zu sehen, ihren Kummer zu spüren, brach ihm fast das Herz. Er streichelte beruhigend über ihren Kopf, sog ihren Duft ein, fühlte ihre Wärme, und kämpfte weiter damit, die Fassung nicht zu verlieren, denn er wollte stark sein. Stark für sie beide, auch wenn er innerlich zerrissen wurde.
Erst nach einigen Minuten ergriff er leise das Wort: „Wovor hast du am meisten Angst?"
Mia schluchzte. „Davor, dass der gesamte Plan nicht funktioniert, dass wir ..."
„Selbstverständlich wird er funktionieren", versuchte er sie aufzumuntern, „bisher hat doch auch alles so weit funktioniert. Mia, du weißt doch, dass wir die anderen niemals im Stich lassen würden, dass wir einfach daran glauben müssen, dass alles gut gehen, dass es funktionieren wird. Außerdem ist das unsere Pflicht."
Sie richtete sich auf und schaute ihn fragend an. „Sprichst du jetzt als Stanton oder als Cullen zu mir?"
Stanton versuchte zu lächeln, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. „Gibt es da einen Unterschied?"
Mia schüttelte langsam den Kopf. „Jetzt nicht mehr... glaube ich. Mein Kopf ist voll von nicht gelebten Erinnerungen. Zumindest nicht aus diesem Leben. Ich weiß, dass du recht hast, ich weiß das alles, so wie du es auch weißt, und trotzdem fällt es mir unheimlich schwer, das alles zu akzeptieren. Außerdem habe ich noch so viele Fragen. Ich wünschte, Cole wäre hier!"

Kaum hatte sie ihren letzten Satz beendet, klopfte es leise an der Tür, was beide im ersten Moment aufschrecken ließ. „Ich glaube, er ist schon da", meinte Stanton tief durchatmend.
„Wirklich?"
„Ich bin mir ganz sicher." Er nahm sie an die Hand und dirigierte sie zum Eingang. „Es ist Cole."

So wie sie vermutet hatten, stand der junge, blonde Mann vor der Tür. Er trug untypische Kleidung, zumindest untypisch für diese Zeit. Die beige-braune Oberbekleidung sah aus, als sei sie aus verschiedenen Stoffresten grob zusammengeflickt worden, und sein übergroßer Hut, dessen Krempe leicht über seine Schultern ragte, verdeckte im ersten Moment seine Augenpartie, bis er den Kopf anhob und sie anblickte.
„Inquisitor, Kommandant", nickte er den beiden zu, „ich freue mich, Sie wiederzusehen." Seine Augen funkelten wissend.
Mia wollte ihn hereinbitten, aber er schlug vor, sich in den Garten zu begeben.
Für Stanton war es das erste Mal, dass er nicht unbedingt und sofort wissen wollte, was Cole für Geheimnisse verbarg, denn im Grunde wären alle Erklärungen auf das Offensichtliche hinausgelaufen, aber Mias Neugier brach schon nach wenigen Schritten das betretene Schweigen.
„Cole", fing sie ganz leise an, während sie ihm folgten, „hast du das die ganze Zeit über gewusst?"
Er nickte stumm, ohne sich umzudrehen.
„Aber warum hast du nichts gesagt?!", fragte sie etwas forsch.
„Die Zeit war dafür noch nicht gekommen", antwortete er ganz ruhig.
„Aber", wollte sie weiterbohren, wurde jedoch von Stanton unterbrochen.
„Mia, was hätte er sagen sollen? Hätten wir ihm geglaubt? Das wäre doch sinnlos gewesen." Er spürte, wie fest sie seine Hand zusammendrückte, während sie dem Steinpavillon immer näher kamen.
Mit einem verständnislosen Blick in den Augen blieb sie kurz stehen und schaute ihn an. „Hättest du es etwa nicht wissen wollen?"
Stanton biss seinen Kiefer kurz zusammen und atmete durch. „Im Grunde nein, denn ich habe die Zeit hier... die Zeit mit dir sehr genossen, und hätte ich gewusst, dass das alles bald ein Ende haben würde, dann ...", er hielt kurz inne und nahm sie in den Arm. „Ich weiß es doch auch nicht, aber ich denke, dass es so richtig war."
„Du hast ja recht. So konnten wir die Zeit wenigstens sorglos genießen."

Cole blieb vor dem Eluvian-Portal stehen, welches in der tief stehenden Nachmittagssonne nicht anders aussah als sonst, jedoch betrachteten beide es jetzt mit anderen Augen.
„Es war die ganze Zeit hier, direkt neben uns, und doch waren wir so blind", stellte Mia ehrfurchtsvoll fest.
Cole nickte. „Ja, aber erst jetzt hat es seine wahre Bedeutung erhalten. Ich spüre, dass Ihr Euch fürchtet, Inquisitor."
Mia seufzte. „Natürlich fürchte ich mich. Was, wenn es nicht funktioniert und alles vergebens war?" Ihre Stimme bebte. „Cole, bitte erkläre mir, was passiert ist, nachdem wir damals hier angekommen sind, denn das Tagebuch gibt darüber keine Auskünfte. Wie ist das alles möglich?"
Coles Blick ruhte eine Weile auf ihrem Gesicht, bis er begann zu erklären. „Durch das mächtige Blutmagie-Ritual ist es Dorian gelungen, den Eluvian so zu manipulieren, dass wir drei in eine andere Welt und Zeit gelangen konnten, um irgendwann wieder zurückzukehren, wenn die Zeitschleife sich wieder an einem Punkt befindet, der in der Welt von Thedas in der Vergangenheit liegt. Das war die einzige Möglichkeit. Sobald wir zurückkehren, müssen wir wieder von vorne beginnen", er nahm aus seiner Tasche einen grün funkelnden Kristall hervor, „und wir konnten auch die Seelen derer mitnehmen, die sich für uns geopfert hatten, denn sie waren über dieses Objekt hier mit uns verbunden. Somit haben sie ebenfalls die Möglichkeit erhalten, hier, in dieser Welt, wiedergeboren zu werden. Das Ganze geschah vor über hundert Jahren. Der Zeitfluss einer Seele lässt sich nicht beeinflussen, also habe ich gewartet und gelernt. Gelernt, menschlicher zu sein. Bei Ihnen beiden war es anders, denn Ihr musstet erst einmal hier sterben, damit Eure Seelen wieder frei wurden. Ich war bis zu Eurem Tod immer hier. Euer gesamtes verbleibendes Leben, welches trotz der Umstände ein sehr glückliches und langes Leben war. Ich habe geholfen, den Eluvian zu verschließen, das Haus zu erbauen, ich habe Eure Tochter aufwachsen sehen, auch wenn sie sich später nicht an mich erinnern konnte, denn ich habe sie auf Euren Wunsch hin vergessen lassen. Nach Eurem Tod habe ich über sie gewacht, sowie über ihre Kinder und dann endlich wieder über ihre Enkelkinder. Über Euch, Inquisitor. In der dritten Generation haben alle Seelen diese Welt hier wieder betreten."
„Moment!", fiel Mia dazwischen, „Meine Nana war unsere Tochter?! Warum kann ich mich jetzt nicht daran erinnern?"
Stantons Herz galoppierte vor Aufregung in seiner Brust. „Cole, ist das wahr? Wieso wissen wir nichts davon? Darüber stand nichts im Tagebuch!"
„Das ist die Antwort, Kommandant. Das Tagebuch enthüllt und bringt nur die Erinnerungen zurück, die aus der Zeit von Thedas sind. Das gesamte Leben, welches hier gelebt wurde, ist von dieser Magie unberührt. Trotzdem ist es wahr."
„Meine Urgroßeltern ...", Mia blickte Stanton mit weit aufgerissenen Augen an, „ ... das waren wir! Das Porträt in der Drachenstatue, das zeigt uns! Uns, in unserem früheren Leben. Aber ...", sie schüttelte verwirrt den Kopf, „aber sie hießen nicht Milena und Cullen Rutherford. Sie hießen: Claire und William Pavus."
„Ja, das stimmt. Diese Vornamen habt Ihr freiwillig gewählt, um Euch irgendwann selbst zu schützen, und den Nachnamen zu Ehren von Dorian."

Mehrere Augenblicke herrschte Stille. Nur der Wind, der raschelnd durch die Bäume fegte, kühlte die aufgeheizten Gemüter etwas ab. Es war so viel Information, so viele Erkenntnisse, dass sogar Stanton leichten Schwindel verspürte. Er zog Mia fest in seine Arme und schloss die Augen. Obwohl er weiterhin verwirrt war, empfand er den Gedanken, dass sie in ihrem vergangenen Leben eine gemeinsame Tochter hatten, als überwältigend.
Cole war der Erste, der das Schweigen wieder brach. „Die Magie hat bis heute funktioniert. Alles ist so eingetroffen, wie Dorian es geplant hatte. Jetzt liegt es an Euch, wie es enden wird."
Diese Tatsache versetzte Stanton einen heftigen Schlag in die Magengegend. „Müssen wir heute zurück?" Seine Stimme bebte aus Angst vor der Antwort.
Cole schaute ihn direkt an. „Ihr müsst überhaupt nicht zurück, es muss freiwillig geschehen."
Stanton spürte, wie Mia sich an ihn presste. Er spürte, ihr fest schlagendes Herz, das direkt gegen seine Brust trommelte, fühlte, wie sie zu zittern begann, wie sie haderte, wie sie innerlich gegen sich selbst kämpfte. Ein kleiner Teil von ihm, ganz tief verborgen, hoffte leise, dass ihre Entscheidung anders ausfallen würde.
„Das ist unser Schicksal, unsere Bestimmung und unsere Pflicht. Und wir werden es tun", sprach sie flüsternd und schien in ihren Gedanken verloren zu sein. „Wann müssen wir aufbrechen?"
Cole blickte zum Himmel hinauf, als würde die Antwort auf diese entscheidende Frage dort oben stehen, als müsste der Erbauer selbst darüber richten.
Dieser Augenblick verharrte ewig, brachte Stantons Puls nur noch weiter zum Rasen, und er verspürte kalten Schweiß auf seinem Rücken.
„In dreiundneunzig Tagen", antwortete Cole sehr sicher.
Obwohl es nur zirka drei Monaten waren, fiel Stanton ein Stein vom Herzen, denn es musste nicht gleich sein, nicht jetzt, nicht sofort. Sie hatten noch dreiundneunzig Tage, und diese wenige Zeit wollten sie nutzen.
„Wieso gerade dieser Zeitraum?", fragte Mia zwar neugierig, aber auch sie schien erleichtert zu sein.
„Weil Ihr dann genau das Alter erreicht habt, indem Ihr wart, als wir hierhergekommen sind. Das ist der Tag. Das Portal wird sich nur dann öffnen, kann nur dann passiert werden. Leichter wiegt das Herz, springt vor Glück und Liebe, tanzt den Traum der Liebenden. Nicht jetzt, nicht morgen, nicht gleich. Dann." Coles Augen funkelten wie Morgentau in der Sonne. „Genießt noch die verbleibende Zeit miteinander, bevor die neue alte Zeit uns eingeholt hat."
„Wir können uns also noch verabschieden", stellte Mia hoffnungsvoll fest.
„Ihr müsst Euch nur von denen verabschieden, die schon immer hier gelebt haben oder ihnen einen letzten Besuch abstatten, denn die anderen warten auf Euch auf der anderen Seite dieses Portals."
„Was sollen wir unserer Familie erzählen? Für sie werden wir doch ohne Grund für immer verschwinden", fragte sie besorgt.
Cole legte eine Hand auf ihre Schulter. „Sobald wir hier weg sind, hat es das alles, so wie Ihr es kennt, nie gegeben. Wir waren nie hier, haben hier nie gelebt. Ihr werdet niemandem fehlen."




Obwohl diese Erkenntnis im ersten Moment bitter einschlug, war es im Nachhinein doch erleichternd zu wissen, dass man niemandem Sorgen und Kummer bereitet hätte. Mia und Stanton genossen die ihnen verbliebe Zeit in vollen Zügen. Natürlich versuchten sie alles, um ihr Geheimnis zu bewahren, auch wenn es ihnen nicht leicht fiel.
Sei es bei den letzten gemeinsamen Abenden bei Jazzy und François, die bald wieder zurück nach Korsika umsiedeln wollten, und die beiden herzlich für den nächsten Sommer zu einem Besuch eingeladen hatten, oder bei der großen Geburtstagsfeier von Varric auf dem Thetras-Anwesen, die, wie jedes Mal, jede Menge Spaß bereite. Außerdem hatten sie eine vierwöchige Reise nach Irland unternommen - ihre verspäteten Flitterwochen, von denen sie jede Sekunde, jede Minute, jeden Tag und natürlich jede Nacht auskosteten. Doch trotz allem kam der entscheidende Moment schneller, als es den beiden lieb war.


Der Winter hielt Einzug im alten, wissenden Garten, und Cole schien der Einzige zu sein, der sich nicht davor fürchtete, durch das metallisch schimmernde Portal auf die andere Seite zu gelangen.

„Du wirst das alles hier niemals vergessen", bemerkte Mia, als sie direkt davor standen.
„Nein, das werde ich nicht", antwortete Cole. „Fürchtet Euch nicht, ich werde wieder zu Euch stoßen, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Und dieses Mal wird alles gut gehen."
Mia atmete zitternd durch, was nicht der sie umgebenden Kälte zuzuschreiben war. „Alles wird wieder gut? Ach Cole, wer versichert mir, dass wir uns alle wiederfinden? Wer versichert mir, dass ich Stanton wieder lieben werde und er mich? Wer?!!" Ihre Stimme klang zornig und verzweifelt.
Stantons Herz wog so schwer, dass er es kaum ertrug, seine Frau anzusehen, die er fest an seiner Hand hielt.
„Die Magie", bestätigte Cole, „Ihr müsst auf die Magie vertrauen."
„Die Magie?! Jetzt sag mir nicht, dass unsere Beziehung ebenfalls ein Werk von Dorians Magie ist?!"
Cole lächelte, was im ersten Moment merkwürdig aussah, weil Stanton ihn noch nie hatte lächeln sehen. „Nein, diese Magie, die Euch beide verbindet, kann man nicht erschaffen oder beeinflussen. Sie ist entweder da oder nicht", seine Augen strahlten sie an, „Das ist die Magie der Liebe, Inquisitor. Die der einzig wahren Liebe."

Cole betrat als Erster die nun flüssig wirkende Oberfläche des Eluvians und verschwand lautlos dahinter.
„Beim Erbauer!", stieß Mia hervor und fiel Stanton in die Arme, „Ich habe solche Angst!"
„Ich weiß, die habe ich auch." Seine Stimme hatte zwar an Kraft, aber nichts von ihrer Sanftheit verloren. „Am meisten davor, dass ich dich nie wieder sehen, dich nie wieder festhalten, ...küssen werde." Er nahm ihr Gesicht das letzte Mal in seine Hände und schaute in die traurigen Augen. Seine Seele verlor sich darin, während sein Herz zu explodieren drohte. Wenn es das Letzte gewesen sein soll, was er jemals in seinem Leben gesehen hätte, dann war es definitiv das Schönste für ihn. „Ich liebe dich ... für immer." Er schloss seine Augen, fühlte die samtige Zartheit ihrer Haut, verspürte ihre Wärme, sog ein letztes Mal den Duft ihrer Haare ein und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die trotzdem ihren Weg über seine kalten Wangen fanden.
„Ich liebe dich auch, und ich habe Angst, dass ich dich dort nicht wiederfinden werde", schluchzte sie.
„Das wirst du! Und wenn nicht, dann werde ich dich finden! Mia, ich werde dich immer finden, denn du gehörst zu mir." Seine Lippen legten sich sanft über ihren Mund, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Kuss niemals geendet hätte.

„Ewig dein", flüsterte er, als er wieder ihre Hand ergriff.
„Ewig dein", bestätigte sie, bevor sie den letzten Schritt wagten.









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Ein eisiger Wind peitschte ihm um die Ohren, und obwohl die Sonne den Himmel gänzlich erobern wollte, wurde sie auch an diesem Morgen durch die klaffende Bedrohung daran gehindert. Der grüne Schleier der Bresche ragte über ihren Köpfen und erinnerte jeden Einzelnen daran, welche Gefahr auf sie hinunter starrte. Cullen zog den Pelzkragen seines Rüstungsumhangs enger um seinen Nacken.
„Den Schild höher, Soldat! Euer Feind würde bei einem Kampf diese Schwäche direkt erkennen!", rief er einem seiner vielen Soldaten zu, die schon seit dem Morgengrauen auf dem Übungsplatz unter seiner Aufsicht trainiert hatten. Er wollte sie so gut es ging auf alles vorbereiten, was noch hätte kommen können, denn er war für diese Truppen verantwortlich, er war ihr Kommandant und von seiner Ausbildung hingen Leben ab.
„Jawohl! Ich werde mich bemühen, diesen Fehler nicht mehr zu wiederholen!"
„Das will ich Euch auch raten. Vor allem, wenn Ihr Euch in einer echten Schlacht befindet, denn davon hängt Euer Überleben ab!"
Frischer Schnee, der in der Nacht zuvor gefallen war, knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich neben die nächsten zwei Rekruten stellte, um auch diese zu korrigieren. „Ihr müsst das Schwert mit mehr Schwung führen. Es muss zu Eurem verlängerten Arm werden. Ihr müsst es fühlen, als wäre es ein Teil von Euch selbst." Er zog sein Schwert und demonstrierte an einer Strohpuppe die richtige Handhabung.
„Jawohl, vielen Dank! Bei Euch sieht das immer so einfach aus", bemerkte einer der neuen Rekruten respektvoll.
Cullens kalte Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, als er seinem Rekruten auf die Schulter klopfte. „Jahrelange Übung. Das könnt Ihr auch schaffen, denn es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Weitermachen!"
Er wollte sich gerade den Nächsten widmen, als er von einem Boten unterbrochen wurde. „Kommandant, wir haben gerade einen Raben mit einer wichtigen Nachricht von Leliana bekommen. Darin steht, dass sie vorhaben, die einzige Überlebende des Konklaves mit nach Haven zu bringen. Sie soll eine besondere Fähigkeit besitzen. Ein Mal auf ihrer linken Hand, mit dem sie die Risse schließen kann." Er sprach schnell und aufgeregt. „Vor zwei Tagen hieß es noch, dass genau sie die Ursache der Explosion beim Konklave war, dass es ihre Schuld war, und jetzt bringen Sucherin Cassandra und unsere Meisterspionin Leliana sie zu uns?!! Also, wenn Ihr mich fragt, dann ..." Er schüttelte den Kopf und wollte noch etwas hinzufügen, aber Cullen unterbrach seine hektische Erzählung.
„Euch fragt aber niemand! Darf ich die Nachricht bitte sehen!"
Der andere nahm direkt eine stramme Haltung an und übergab ihm umgehend den kurzen Brief. „Natürlich, Kommandant!"
„Vielen Dank. Und jetzt zurück an die Arbeit!"
Der Bote salutierte, bevor er schnellen Schrittes davonlief.

Trotz der anfänglichen Bedenken haben wir uns dazu entschieden, Miss Milena Trevelyan mit uns nach Haven zu bringen. Sowohl Cassandra als auch ich sind mittlerweile davon überzeugt, dass sie keine Schuld an der Explosion beim Konklave trägt, obwohl sie ihr Gedächtnis über diesen Vorfall verloren hat. Im Gegenteil glauben wir sogar, dass sie eine große Hilfe für uns sein könnte, denn das Mal, welches sie auf ihrer linken Hand trägt, befähigt sie dazu, die Risse zu schließen. Niemand weiß, wie sie es erhalten hat, nicht einmal sie selbst, aber die Stimmen, dass sie der Herold Andrastes sein könnte, dass sie ebenfalls sogar die Bresche schließen könnte, werden immer lauter. Außerdem ist sie hervorragend ausgebildet im Umgang mit dem Zweihänder. Alles weitere klären und besprechen wir heute Nachmittag im Ratsraum.

Leliana


In diesen Zeilen lag Hoffnung. Hoffnung, die alle zu diesem Zeitpunkt am nötigsten hatten. Und auch Cullen selbst wollte zu gerne daran glauben, dass sie etwas Besonderes war, dass diese junge Frau, von der man glaubte, sie sei vom Erbauer selbst geschickt worden, ihnen im Kampf gegen den selbst ernannten Gott Corypheus helfen könnte. Er las den Brief noch mehrmals durch, bevor er sich in den Ratsraum begab, um dort weitere Berichte durchzusehen.






Vertieft in seine Unterlagen bemerkte er den aufkommenden Trubel vor der Tür nicht, als diese plötzlich durch die Sucherin geöffnet wurde, die gemeinsam mit Leliana den Ratsraum in Haven betrat.
„Cullen, gut, dass Ihr schon da seid. Miss Trevelyan müsste jeden Augenblick zu uns stoßen. Gab es irgendwelche Vorkommnisse während unserer Abwesenheit, über die wir unterrichtet werden sollten?", fragte Cassandra interessiert.
„Nein, keine ungewöhnlichen Vorfälle. Außerdem denke ich, dass Ihr Neuigkeiten zu berichten habt. Klärt mich bitte auf, denn in dem kurzen Schreiben stand nur das Nötigste." Er richtete sich auf und legte seine Hände auf den Knauf seines Schwertes.
Cassandra schien aufgeregt zu sein, jedoch auf eine positive Weise. „Nun, wie es scheint, haben wir uns geirrt, was unseren Verdacht anging, denn die junge Frau scheint keine Bedrohung zu sein. Im Gegenteil könnte sie uns eine Hilfe sein, vielleicht sogar die größte Hilfe, die wir bekommen können. Ich hoffe, dass sie bereit ist, sich uns anzuschließen."
„Das fragen wir sie am besten selbst", fügte Leliana hinzu, als im gleichen Augenblick die Tür erneut geöffnet wurde und Milena den Ratsraum in Begleitung eines Rekruten betrat, der sich daraufhin direkt wieder verabschiedete.
Cullen schluckte, als er sie zum ersten Mal sah. Seine Finger verkrampfen sich Halt suchend um seinen Schwertknauf. Natürlich hatte er eine junge Frau erwartet, eine Kriegerin sogar, jemanden, auf dem ihre momentane Hoffnung ruhte, aber was er keinesfalls erwartet hatte, war, dass ihr Anblick ihn direkt faszinierte, dass seine Atmung kurz aussetzte, während sein Herz einen ungewohnten Sprung vollführte.
Als Cassandra die beiden einander vorstellte, nickte er nur, denn sein Mund schien zu trocken, um etwas zu entgegnen. Milena lächelte ihn an. Ein Lächeln, welches ihm fast den letzten Halt unter seinen Füßen entzogen hätte. Er ertappte sich dabei, wie seine Hand selbstständig in seinen Nacken gewandert war. Eine Geste, die er mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte, es jedoch nicht schaffte. Die Unterhaltung nahm ihren Lauf, zu der er nur kurze und knappe Aussagen beisteuern konnte, denn schon allein der Klang ihrer Stimme drang tief in sein Herz hinein.
Innerlich versuchte er sich ständig selbst zu maßregeln, denn sie befanden sich im Krieg. Er, gerade er sollte doch die nötige professionelle Distanz bewahren können! Doch mit jeder ihrer Bewegungen, jedem Wort und jedem Blick fesselte sie ihn mehr. So sehr, dass er frustriert seufzte, nachdem seine Gedanken sich immer wieder verloren hatten, denn in welchem Leben gäbe es nur den Hauch einer Chance, dass eine Frau wie sie sich für ihn interessieren könnte?




(Anmerkung der Autorin – in JEDEM!!!) :)




ENDE







Danke fürs Lesen :) Hinterlasst mir gerne einFeedback - ich freue mich riesig!! ;)
Macht es gut, Ihr Lieben :*


UND als kleines Abschieds - Geschenk für Euch, gibt es zum Schluss noch ein kleines Video 'Erinnerungen von Mia & Stanton' (Wen es interessieren sollte, wie meine Mia tatsächlich aussieht. Ich habe eine Frau gefunden, welche meiner Protagonistin - zumindest wie sie in meiner Fantasie existiert – ähnelt. Die Foto-Montagen von Stanton sind von mir)


In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt