Kapitel 2

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Obwohl viel Arbeit auf ihn wartete, nahm er sich den heutigen Tag frei.
Er musste unbedingt wieder einen klaren Kopf bekommen, bevor er sich erneut seinen täglichen Aufgaben stellen konnte.
Völlig übermüdet ließ er sich ein Bad ein, denn nach den Strapazen der letzten Nacht verlangte sein Körper nach etwas Entspannung.
Beim Ablegen seiner mittlerweile trockenen aber völlig verschmutzen Kleidung, fand er in seiner Hosentasche das Schmuckstück wieder.
Das wohltuende, warme Wasser bedeckte seine schmerzenden Muskeln und mehrere blaue Flecke wurden nun deutlich sichtbar.

Was für ein ungewöhnlicher Haarschmuck, dachte er, während seine Finger den kleinen Drachen streichelten. Trotz der kleinen Größe, der liegenden Figur, war das Grün in seinen Augen fesselnd intensiv.
Sofort musste er wieder an Mia denken. Ob es ihr gut ging? War sie körperlich unversehrt? Würde er sie vielleicht bald wiedersehen können? Die Fragen kreisten wie schreiende Möwen in seinem Kopf.
Immer wenn er seine Augen schloss, sah er sie verängstigt an der Wand stehen, völlig durchnässt und innerlich aufgewühlt, wirkte sie so verletzlich und doch sonderbar kraftvoll.

Seine Lippe pochte.
Nachdem er das Bad verließ blickte er zum ersten Mal in den runden, vergoldeten Spiegel über seinem Waschbecken, um seine Oberlippe näher zu betrachten. Ungeachtet dessen, dass dieser Anblick wirklich nicht schön war, störte ihn diese Verletzung nicht weiter. Er war sogar froh darüber, dass sein bislang so makelloses Gesicht nun wahrscheinlich eine Narbe davon tragen würde und hoffte, eventuell, durch diese Narbe weniger attraktiv auf seine Umwelt zu wirken als bisher.
Die Müdigkeit überkam ihn zusehends und er legte sich völlig erschöpft in sein großes Bett, um endlich etwas Schlaf zu finden.

Erst am späten Nachmittag fühlte er sich im Stande das Bett wieder zu verlassen und mit einem frischen weißen Hemd und einer sauberen Hose konnte der Tag nun endlich beginnen. Er war gerade dabei sich einen Kaffee aufzusetzen, als es an seiner Tür klopfte.

Eigentlich hatte er heute keinen Besuch erwartet, daher schaute er vorsichtshalber durch den Türspion, aber außer ein paar rotblonden Haaren, die zu einem kleinen Zopf gebunden waren, konnte er nichts weiter erkennen. Auch ohne das Gesicht zu sehen, wurde ihm direkt klar, wer dort nach Einlass verlangte. Es war sein alter Freund Varric.
Stanton öffnete überrascht die Tür, denn eigentlich müsste Varric wissen, dass er normalerweise um diese Uhrzeit nicht in seiner Wohnung anzutreffen war.
Ein etwas untersetzter Mann betrat aufgeregt die Wohnung.
Er trug einem dunklen Nadelstreifenanzug mit einer passenden Weste darunter und ein für Stantons Geschmack viel zu weit offenes Hemd, welches den Blick auf seine roten, gekräuselten Brusthaare lenkte. Eine übergroße Goldkette, die schwer an seinem Hals hing, rundete sein Outfit ab . Ohne ihn zu kennen würde man seine Person in das 'Rotlicht Milieu' einordnen, allerdings war Varric weder ein Zuhälter noch hatte er irgendetwas mit dieser Branche zu tun.
Er war Geschäftsmann und hatte viele Beziehungen in die Londoner Unterwelt. Was genau er machte wollte Stanton auch nicht ausführlicher wissen, denn Varric war einfach ein guter Freund, der ihm nicht nur privat sondern auch geschäftlich, schon öfter den einen oder anderen guten Tipp gab.

Varric sah besorgt aus und bevor Stanton zu irgendeiner Frage ausholen konnte, legte der kleine Mann schon los: „ Löckchen..", diesen mehr oder weniger passenden Spitznamen benutzte Varric gerne in einem privaten Gespräch mit ihm.
„..Du hast jetzt anscheinend ein paar Probleme mein lieber Freund." Er schaute Stanton dabei direkt und ernst in die Augen.
„Mir ist zu Ohren gekommen, was sich heute Nacht auf der Straße vor deinem Büro abgespielte, und übrigens: du siehst scheiße aus." Er musterte, auf seine Zehenspitzen gestellt, die frisch genähte Wunde an Stantons Lippe.
„Woher weißt du..?!" Doch bevor er Varric weiter ausfragen konnte, fuhr der quirlige kleine Mann schon selber fort.
„Dir ist es doch durchaus bewusst, dass ich überall meine Augen und Ohren habe. Ich habe verlässliche und relativ schnelle Quellen, auch im Polizeidienst, die durchaus in der Lage sind, mich mit Informationen zu versorgen, die mich interessieren könnten. Und du mein Freund interessierst mich definitiv."
Varric stampfte weiter Richtung Salon und setzte sich auf das gemütliche Chesterfieldsofa.
„Vielleicht sollten wir jetzt einen guten Whisky trinken, bevor wir die Details bereden ."
Nach Alkohol verlangte Stantons Schädel jetzt am allerwenigsten. Aber um nicht unhöflich zu sein, ging er an seine Bar , nahm ein Glas und einen guten Tropfen heraus und stellte sie seinem Freund vor die Nase.
„Ich hoffe du wirst nachsichtig mit mir sein, wenn ich nicht mit dir anstoßen werde, aber im Moment würde ich einen starken Kaffee wirklich bevorzugen."
Er umklammerte dabei mit der rechten Hand seine Stirn und massierte dabei etwas die Schläfen. Die Kopfschmerzen mit denen er eingeschlafen war, waren immer noch vorhanden.
„Ich verstehe bis jetzt, dass du vom gestrigen Zwischenfall erfahren hast. Das ist zwar schön und gut, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, aber wie du siehst geht es mir einigermaßen gut." Er ging in die Küche zurück um sich seinen Kaffee zu nehmen.
„Das ist ja auch nicht das Problem, mein Lieber. Das eigentliche Übel ist nicht deine Schlägerei, sondern die Person mit der du diese hattest, denn leider handelt es sich dabei um einen von Cory's Männern." Varric nahm einen großen Schluck aus dem Kristallglas.
„Und da dir der Name wohl nicht unbekannt ist, wovon ich ausgehe, lässt das die ganze Sache schon gefährlicher erscheinen."
Stanton blieb kurz in der Küchentür stehen und lehnte sich am Türrahmen an.
„Du meinst Cory Pheus, den berüchtigten Gangster aus der Unterstadt, der überall seine Finger im Spiel hat."
Varric nickte ihm zu.
„Und was befürchtest du jetzt?", fragte er seinen Freund. „Ganz einfach, weiteren Ärger! Denn die Bande ist für Ärger bekannt. Die Polizei versucht ständig, ihnen irgendeine krumme Sache nachzuweisen, aber die sind so gut organisiert, dass sie immer einen Schritt voraus sind." Varric stand auf und lief über den edlen Dielenfußboden. Dabei quietschte das Holz manchmal unter seinen stampfenden Füßen.
„Du darfst das jetzt nicht falsch verstehen Stanton, ich hätte an deiner Stelle genauso gehandelt, wenn ich in dieser Situation gewesen wäre. Ein Mann hat nicht das Recht eine Frau derart zu bedrängen oder sogar körperlich anzugreifen. Allerdings war dieser Mistkerl nun mal einer von Cory's Leuten, der zum größeren Übel, dafür auch noch von der Polizei eingesperrt wurde. Die werden den jetzt nicht gerne wieder ziehen lassen und versuchen bestimmt irgendwelche Informationen aus ihm zu quetschen, die auf andere Fälle hinweisen. Ich bezweifle jedoch, dass sie damit Erfolg haben werden. Wenn du mich fragst ist der morgen wieder draußen und die ganze Sache ist für die Polizei durch. Wie immer. Aber warten wir es ab. " Varric lief weiter auf und ab während er sein Glas immer wieder ansetzte.

„Die Sache wird diesmal wohl nicht so schnell unter den Teppich gekehrt werden, denn das ' Opfer' des Angriffs, ist die Schwester eines Polizeibeamten."
Varric blieb kurz stehen und schaute in seine Richtung. „ Verdammt, das wusste ich bislang noch nicht...", er rümpfte dabei seine Nase.
„Wie es aussieht sind deine Quellen doch nicht so akkurat wie du dachtest, oder..", Varric fiel ihm ins Wort: „ Sie dachten wahrscheinlich, dass diese Information unwichtig für mich ist. Nichts desto trotz Löckchen, solltest du einfach in der nächsten Zeit etwas besser auf dich aufpassen. Wenn du willst würde ich dir sogar einen von meinen besten Männern abstellen, damit er ein Auge auf dich hat. Ein kräftiger Bursche, mit breiten Schultern und einem bulligem Nacken."
„Danke, aber ich denke das wird nicht nötig sein, denn ich kann schon ganz gut auf mich selbst aufpassen." Stanton lächelte etwas gedrungen.
„ Mit dieser Antwort habe ich durchaus gerechnet mein Freund, aber dafür kenne ich dich einfach zu gut." Er klopfte Stanton auf die Schulter und wollte seine Wohnung gerade verlassen, als er doch noch einen Moment stehen blieb. „ Und wenn es Hart auf Hart kommen sollte..", Varric zog unter seiner Jacke einen sehr gepflegten Colt, der eine Sonderanfertigung für ihn war, hervor „ kannst du dich auf mich und meine 'Bianca' hier verlassen."


In den nächsten zwei Tagen passierte erst einmal nichts. Stanton konnte mehr oder weniger konzentriert an seinem aktuellen Auftrag weiterarbeiten. Es war keine große Sache, denn eine betrogene Ehefrau ließ ihren Mann beschatten um Beweise zu haben, dass sie hintergangen wurde.
Leider musste Stanton enttäuscht feststellen, dass Mia in den letzten zwei Tagen nicht mehr in der Bar gesungen hatte, was mehr als verständlich war nach diesem Zwischenfall. Neben seiner Arbeit begann er Nachforschungen über ihre Person anzustellen, denn irgendwie ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Zuerst hatte er seine aufkommende Aufmerksamkeit damit begründen wollen, dass er in Sorge um sie war, aber da war definitiv mehr als das. In der Bar selbst konnte er nicht viele Informationen über ihre Person erfahren. Außer ihren Namen, Mia Trevelyan.
Die Familie Trevelyan war wohlhabend und verkehrte eigentlich in besseren gesellschaftlichen Kreisen, was ihn immer wieder zu der Frage brachte, warum Mia selbst in so einer Bar arbeiten wollte.
Mindestens zwei Mal pro Tag holte er ihr Schmuckstück hervor, welches er seit dieser Nacht immer bei sich trug. Als er gerade wieder den Drang verspürte den kleinen Haarkamm zu betrachten, klopfte jemand an seiner Bürotür. Dieses Geräusch ließ ihn aufschrecken, als hätte ihn jemand dabei ertappt etwas Verbotenes zu tun.
„Bitte herein. Es ist offen."
Die Tür öffnete sich und ein gut gekleideter, ihm bekannt vorkommender Mann betrat sein Büro. Es war Mias Bruder. Diesmal in Zivilkleidung wodurch Stanton ihn erst nach wenigen Augenblicken zuordnen konnte.
„ Guten Tag , Mr.Rutherford. Mein Name ist Inspektor Dorian Trevelyan, Drogendezernat , wir hatten ja schon einmal kurz das Vergnügen." Er streckte Stanton seine Hand entgegen.
Stanton erhob sich von seinem Schreibtisch, um den Gentleman zu begrüßen.
„ Ja, ich kann mich erinnern, allerdings war das wohl eher kein Vergnügen, aber bitte setzten Sie sich."
Stanton dachte sofort daran ihn über seine Schwester auszufragen, aber das wäre zu diesem Zeitpunkt eher unpassend, deswegen wartete er erstmal ab, was der Inspektor von sich aus erzählen würde.
„ An allererster Stelle bin ich hier um mich nochmal, auch im Namen meiner Familie, dafür zu bedanken was Sie für meine Schwester getan haben. Denn heutzutage ist das nicht selbstverständlich so viel Zivilcourage zu zeigen, wie Sie das getan haben. Darüber hinaus würde mich interessieren, ob Sie eine Anzeige gegen den Drecksack erstatten wollen. Sie müssen meine Wortwahl entschuldigen, aber ich bin persönlich zu stark in diese Angelegenheit involviert."
Dorian fing an mit zwei Fingern seinen Oberlippenbart zu zwirbeln und schaute dabei neugierig in Stantons Richtung.
„ Meine Schwester, müssen Sie wissen, will davon leider und gegen meinen Rat, absehen. Da ich davon ausgehe, dass sie mittlerweile genau Bescheid wissen um wen es sich hier bei dem Burschen handelt, wäre es nicht verwerflich, wenn Sie es genauso handhaben würden, wie meine Schwester ". Dorian blickte ihn fragend an.
„ Mir ist es ebenfalls bewusst, dass Sie damit noch mehr Aufmerksamkeit von Mr. Pheus auf sich ziehen würden und das diese Tatsache alleine, schon einschüchternd wirken könnte."
Stanton hielt es einfach nicht mehr länger aus, er wollte unbedingt wissen wie es Mia ging.
„ Wie geht es Ihrer Schwester, ist sie wohlauf?", fragte er ohne vorerst auf der Rest einzugehen.
„ Ja, danke. Den Umständen entsprechend würde ich sagen. Sie hat einen kleinen Schock erlebt, aber das wird wieder."
Stanton wollte es genauer wissen: „ Ist sie verletzt?".
„ Körperlich nicht, aber emotional hat sie damit noch etwas zu kämpfen", entgegnete Dorian.
„ Aber zurück zu meiner Frage. Was gedenken Sie zu tun?
„ Wenn Ihre Schwerster von einer Anzeige absehen will, dann werde ich das ebenfalls tun, denn ich will sie nicht noch weiter in diese Sache rein ziehen. Falls mir dadurch irgendeine Gefahr Seitens der Mafia drohen sollte, dann wäre sie davon nicht weiter betroffen."
„ Ich verstehe. Auch wenn ich das privat als sehr lobenswert empfinde, so ist es aus meiner beruflichen Perspektive sehr bedauernswert. Aber gut. Wenn das Ihre Entscheidung ist, dann werde ich damit leben müssen. Falls Sie in der nächsten Zeit durch Cory's Männer bedroht werden sollten, oder Ihnen irgendetwas merkwürdig vorkommen sollte, dann scheuen Sie sich nicht mich darüber zu informieren. Ich bin für jede Spur dankbar. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, denn ich muss einem anonymen Hinweis, der
sich ebenfalls gegen diese Bande richtet, nachgehen." Dorian zog kurz seinen Hut und verließ so zügig wie er gekommen war wieder das Büro.

Während der Inspektor in seinem Büro war, dachte Stanton kurzzeitig daran ihm den Haarkamm seiner Schwester einfach zu geben, aber er wollte sich nicht von diesem Schmuckstück trennen, er hoffte innerlich, dass er selbst es ihr irgendwann aushändigen könnte, allerdings müsste er sie überhaupt wieder zu Gesicht bekommen. Obwohl ihm mittlerweile die Adresse der Familie, durch Recherche bekannt war, wäre es töricht von ihm, dort einfach aufzulaufen und nach ihr zu verlangen. Außerdem war es das Einzige, was er von ihr besaß.

Den nächsten Tag verbrachte er in seiner Dunkelkammer, die er sich in dem kleinen Abstellraum seines Büros eingerichtet hatte. Die Filme und die Fotos der letzten Aufträge mussten dringend entwickelt werden. Der kleine Raum besaß keine Fenster und eignete sich deshalb hervorragend für solche Arbeiten. Nachdem er den Türspalt lichtdicht hinter sich versiegelte, stand er alleine, in völlige Dunkelheit eingehüllt, da. Seine Gedanken kreisten wieder, wie so oft in den letzten Tagen um Mia. Diese Frau wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl es ihr anscheinend gut ging, würde er sich doch all zu gerne selber von dieser Tatsache überzeugen.
Das Rotlicht der Dunkelkammer war für viele Stunden seine einzige Lichtquelle an diesem Tag gewesen. Gerade als er dabei war das letzte Foto ins Fixierbad zu tauchen, wurde er durch leises Klopfen und eine Frauenstimme, aus seinen Gedanken gerissen.
„ Hallo? Mr. Rutherford." Es klopfte etwas lauter an die Tür der Dunkelkammer. Diese Stimme, dachte er, diese Stimme kam ihm bekannt vor. Ohne jedoch weiter darüber nachzudenken, öffnete er die Tür. Seine Augen mussten sich wieder langsam an die Helligkeit des Raumes gewöhnen und er blinzelte mehrfach bevor er überhaupt etwas erkennen konnte.
„ Entschuldigen Sie Mr. Rutherford, aber die Bürotür war nicht abgeschlossen und ich war so frei einzutreten und als ich gerade wieder gehen wollte, weil niemand hier war, hörte ich Geräusche aus diesem Raum."
Stanton hatte weiterhin Schwierigkeiten zu erkennen, wer da mit ihm sprach, aber so langsam wurde das Bild klarer und deutlicher.

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