Kapitel 1

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Sein Name war Rutherford, Stanton Rutherford. Er war ein junger, gut aussehender Mann Ende Zwanzig. Obwohl er eine gewisse Anziehungskraft auf die Frauenwelt hatte, war er in dieser Beziehung zurückhaltend und jagte nicht jeder Gelegenheit nach, die sich ihm bot.
Den aufkommenden Hype um seine Person verstand er sowieso nicht, sobald er einen überfüllten Raum betreten hatte. Die gierigen Blicke der Frauen und die neidischen Blicke der Männer, waren ihm mehr als unangenehm in vielen Situationen und deshalb war er nicht so oft, wie er es vielleicht gerne getan hätte, in der Londoner Abendszene unterwegs.

In einer Zeit der großen Veränderung, des Wohlstands der Gesellschaft und der üppigen Partyabende, Anfang der 30er Jahre, ging er auch an langen Abenden lieber seiner Arbeit nach. Als Privatdetektiv war er durchaus in der Lage Situationen gut einzuschätzen und die Menschen richtig einzuordnen, doch manchmal war diese Gabe für ihn mehr ein Fluch als ein Segen.
Trotzdem war er dankbar für diese Fähigkeit, denn sie hatte ihn schon öfter vor brenzligen Situationen bewahren können.

Sein Büro befand sich in einer abgelegenen Straße Londons, in die man sich nur verirrte um entweder seine Dienste in Anspruch zu nehmen, oder die gegenüberliegende Bar zu besuchen.
Es war eine typische, kleine Jazzbar dieser Zeit. Hauptsächlich vom männlichem Publikum besucht, in der man Whisky trinken und Zigarren rauchen konnte. Ein Ort, den er selbst nicht freiwillig aufsuchen würde um dort seinen Abend mit unnötigen Konversationen und zu viel Alkohol zu verbringen.
In den langen Nächten, in denen er wie so oft, in seinem Büro übernachten musste, weil seine Arbeit den Schreibtisch füllte, hörte er bei geöffnetem Fenster die Musik aus dieser Ecke.
Immer wieder wurde der Gesang einer Frauenstimme durch Lärm und Streit auf der Straße unterbrochen. Aber trotzdem war ihre Stimme die einzige, die ihn nach einem stressigen Tag, in den Schlaf singen konnte. Irgendwas in ihr schien ihm vertraut, auch wenn er dieses Gefühl sonderbar fand, konnte er sich ihrem Klang nicht entziehen. Sie war so warm, beruhigend und sinnlich, dass jeder Ton bis in sein Innerstes drang ob er das wollte oder nicht.
Eigentlich wäre diese Stimme der einzige Grund für ihn gewesen, diese Bar mal zu besuchen, aber bei dem Gedanken daran was ihn dort außerdem erwarten würde, verlor er jedes Mal die Lust daran seiner Neugier nachzugehen.

Wie auch schon an vielen Abenden zuvor entschied er sich auch heute dazu, in seinem Büro die Nacht zu verbringen. Es war schon weit nach Mitternacht und der Regen setzte, wie so oft in dieser Region, ein. Ein leichter Nebel hüllte die Straße in zarte Watte und außerdem war er schon viel zu müde, um den Heimweg anzutreten. An solchen Abenden war er froh darüber, dass er sich in einem Nebenraum des Büros ein kleines aber gemütliches Schlafplätzchen eingerichtet hat. Außer einem Bett, ein paar Büchern und Kerzen war der Raum nicht wirklich wohnlich, aber gemütlich genug um dort zu übernachten.
Gerade als er sich in diesen Teil zurückziehen wollte erregte ein heftiger Streit, auf der Straße, seine Aufmerksamkeit. Wie so oft dachte er an betrunkene Männer, die irgendwelche Meinungsdifferenzen ausdiskutieren wollten, als er eine Frauenstimme bemerkte. Es war nicht irgendeine Stimme, sondern die Stimme der Sängerin aus der Bar.

Er ging zum Fenster und öffnete mit seinen Fingern einen Spalt in der Jalousie, um sich einen Überblick über die Geschehnisse, welche sich vor der Bar abspielten zu verschaffen.
Ein wohl sehr betrunkener Mann hielt eine zarte Person ungewollt am Arm fest. Sie wollte die Bar nach getaner Arbeit verlassen, aber er hinderte sie daran. Anscheinend hatte dieser Mann die Gelegenheit ausnutzen wollen, sie zu überreden mit ihm noch etwas Weiteres zu trinken.
Nach jedem „Nein" ihrerseits versuchte sie immer wieder an ihm vorbeizukommen, er allerdings blieb weiterhin stur und bedrängte sie immer mehr.

Ein solches Verhalten seitens eines Mannes war Stanton mehr als zuwider. Wie konnte dieser Kerl sich erlauben eine Frau in der Nacht so zu belästigen. Pochende Wut breitete sich langsam aber stetig in seinem Körper aus, lange würde er sich dieses Szenario nicht mehr anschauen können.
Diese penetrante Belästigung einer jungen Dame weckte in ihm seinen Beschützerinstinkt, schließlich ging es hier nicht, wie so oft um zwei betrunkene Männer, sondern um eine wehrlose Frau, die alleine auf der Straße um ihre persönliche Freiheit kämpfte.
Das ging mehr als zu weit für ihn.
Nach einem weiteren Mal als sie versucht hatte ihrem Angreifer zu entkommen, packte er sie und drückte sie sehr unsanft an die Wand. Die Situation drohte zu eskalieren.

Stanton konnte und wollte sich das nicht mehr länger ansehen, er musste einschreiten und zwar sofort.
Er wirbelte um seinen Schreibtisch herum und lief auf die Straße, packte diesen Mann an der Schulter, um ihn von weiterer Gewalt ihrer Person gegenüber abzuhalten. Die Kraft die er dafür aufgebracht hatte war stärker als beabsichtigt, denn der Mann fiel direkt zu Boden.
Ein Geruch aus kaltem Rauch und schlechtem Whisky breitete sich in seiner Nase aus. Der Regen durchnässte sein Hemd und kühle seine Haut merklich ab.
Bei dem Sturz zog sich der Mann eine Platzwunde am Kopf zu, die nun anfing stark zu bluten. Nach einer Schrecksekunde wischte er sich die ersten Bluttropfen aus seiner besoffenen Visage und lallte drauf los: „ Eh, du blöder Penner! Was soll denn das jetzt?! Was willst du von mir?! Ich wollte hier gerade einen schönen Abend mit der reizenden Lady fortführen und du gehst einfach dazwischen...!"

Während er sprach, versuchte er langsam wieder auf die Beine zu kommen, was ihm auch besser gelang in seinem Zustand, als Stanton vermutet hätte. Er ahnte schon, dass diese Sache hier noch nicht vorbei war.
Die Frau stand die ganze Zeit über mit dem Rücken an der kalten Wand hinter ihm. Er konnte sie noch nicht einmal fragen, ob alles in Ordnung war, denn der betrunkene Mann forderte erst einmal seine ganze Aufmerksamkeit.
„Hör mir mal gut zu Freundchen, das hier geht dich einen Scheiß an.. und ich denke es wäre besser für dich jetzt zu verschwinden!", fauchte er los.
„Sonst sehe ich mich gezwungen andere Maßnahmen zu ergreifen...", dabei zog er ein Springmesser aus seiner nassen Hosentasche und klappte es auf.
Dieser kurze Klang des Metalls, dieses Klicken, legten bei Stanton einen weiteren Schalter um. Hier ging es nicht mehr um eine Belästigung sondern drohte zu weiterer Körperverletzung auszuarten.
Trotz der späten Stunde waren seine Sinne geschärft, sein Verstand hellwach und sein Körper angespannt. Instinktiv schob er mit einem Arm den Körper der hinter ihm stehenden Frau, weiter in seinen Schatten, um sich selbst wie eine schützende Mauer vor sie zu stellen.

Der immer dichter werdende Nebel behinderte merklich seine Sicht auf die drohende Gefahr, aber seine Pupillen würden auch noch die kleinste Bewegung wahrnehmen. Sein Körper verspürte in diesem Moment keine Kälte mehr, der Regen fiel für ihn in Zeitlupe auf den Boden. Was immer dieser Typ jetzt vor hatte, er wäre bereit.

Wenn dieser Mann sich nicht beruhigen würde, dachte Stanton daran, einfach seine Waffe zu ziehen, denn normalerweise reicht die Demonstration seiner Pistole aus, um weitere Konfrontationen zu verhindern. Bislang musste er zwar noch nie davon Gebrauch machen, aber in seinem Job war sie durchaus eine Sicherheit, auf die er nicht verzichten wollte.
Zu seinem Leidwesen musste er allerdings feststellen, dass er die Pistole auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Sie war das Erste was er abgelegt hat als er vor hatte schlafen zu gehen.
Verdammt, dachte er sofort, als er nach ihr greifen wollte. Jetzt könnte er diese Waffe wirklich gut gebrauchen.
Der Mann grinste schief als er bemerkte wonach Stanton suchte, denn nur noch ein leeres Halfter hing über seiner Schulter. „ Das wahr wohl nichts Kleiner!", spottete er in seine Richtung und fing an mit seinem Messer in die Luft zu stechen.
Irgendwie musste Stanton versuchen, ihm diese Waffe abzunehmen. Aber da die Angriffe so unkontrolliert waren, würde dies kein leichtes Unterfangen werden.
Er hatte keine Angst verletzt zu werden, obwohl er dies natürlich vermeiden wollte, seine einzige Befürchtung war, ihr könnte etwas bei diesem Kampf zustoßen.
Da der Typ nicht locker ließ und immer näher auf die beiden zu kam, musste Stanton jetzt handeln.
Eine heftige Schlägerei nahm ihren Lauf. Stanton versuchte immer wieder das Messer aus der Hand des Angreifers zu entreißen, aber die regennasse Straße spielte ihm nicht in die Karten, er rutschte aus und in einem unvorsichtigem Moment gelang es dem Fremden, ihn mit dem Messer an der rechten Oberlippe zu verletzen.
In dieser Sekunde war das Adrenalin in seinen Adern jedoch so hoch, dass er diese Verletzung nicht spürte.
Mit einem heftigen Schlag seiner rechten Faust gelang es ihm schließlich, den kräftigen Mann bewusstlos zu schlagen. Dieser fiel erneut zu Boden und das Messer rutschte, scheppernd, die Straße entlang in sichere Entfernung.
In der Zwischenzeit rief anscheinend jemand die Polizei, denn es dauerte keine weitere Minute bis ein großer, dunkelhaariger Mann in Uniform, den auf dem Boden liegenden Mann die Handschellen anlegte. Sein Kollege wollte während dessen Stanton verhaften, als eine zittrige Stimme dazwischen rief : „ Nein!... Das ist wirklich nicht nötig, er hat mich vor diesem Mann nur beschützt. Du darfst ihn nicht festnehmen lassen! Bitte sag deinem Kollegen er hat nichts getan und er darf ihn nicht mitnehmen, Dorian !" Ihre Stimme wurde dabei immer lauter und direkter.
Erst jetzt bemerkte Dorian seine eigene Schwester im dichten Nebel hinter Stanton stehen. Sein Gesicht wurde bleich und er entfernte sich augenblicklich vom Boden und lief auf sie zu.
„Mia, mein Gott... Mia, geht es dir gut?!... Was?!.. Was ist hier passiert ... warum bist du nicht schon längst zu hause ?! Was wollte dieser Kerl von dir?!.."
Er hielt sie dabei mit beiden Händen an ihren Schultern fest und blickte sorgenvoll in ihr Gesicht. „Sprich! Bist du verletzt? Geht es dir gut?"
Mia stand immer noch zitternd da. Sie war mittlerweile fast völlig durchnässt. Ihr schwarzer Mantel konnte sie nicht mehr wärmen und ihre langen, dunklen Haare lösten sich teilweise aus dem hinteren Haarnetz, die zarte Wasserwelle auf ihrem Oberkopf war nicht mehr erkennbar, ihre Wimperntusche war verlaufen und der Lippenstift verschmiert.
Sie fing an zu weinen und fiel ihm in die Arme .
„Dorian" , schluchzte sie los, „ Dorian, ich hatte solche Angst." Ihr Mund war zu trocken um richtig sprechen zu können. „ Dieser Mann, der gerade in euren Wagen verfrachtet wird,... er wollte mich nicht in Ruhe lassen.. er wurde immer aufdringlicher ...", sie weinte heftiger, „ und wer weiß, was mit mir passiert wäre, wenn dieser fremde Mann..", sie zeigte mit ihrem Finger kurz auf Stanton, „ ..nicht dazwischen gegangen wäre..."
Dorian umarmte nun seine Schwester mit all seiner Kraft. Er wollte sie wärmen, sie trösten, ihr zumindest jetzt zeigen, dass er für sie da war.
„Komm, ich bringe dich jetzt in Sicherheit. Ich bringe dich nach Hause, wir brechen sofort auf."
„ Warte bitte noch kurz.." Sie löste sich aus seinen Armen und ging langsam auf Stanton zu.
Er stand ebenfalls völlig durchnässt und blutend weiter im Regen. Sein Körper begann nun langsam die Schmerzen zuzulassen, die er während des Kampfes gekonnt ignoriert hatte. Der Geschmack seines eigenen Blutes drang zu ihm durch und er fasste sich mit seinen Fingern an die pochende Wunde.
Seine Fingerknöchel waren teilweise aufgeplatzt und er hatte einige Schürfwunden auf seinen Armen.
Doch alles war er wissen wollte, war, ob sie verletzt wurde und ob es ihr gut ging. Ihr Wohlsein schien ihm viel wichtiger zu sein, als das Eigene zu diesem Zeitpunkt.
Bevor er jedoch irgendetwas sagen konnte, begann sie leise und unsicher zu ihm zu sprechen.
„ Danke", stotterte sie los, „.. ich weiß gar nicht wie ich Ihnen danken soll,... sie haben mich...Sie waren.. plötzlich da..." Mia hielt mit beiden Händen ihren Mantel fest zusammen und blickte direkt in seine Augen. „ Sie haben mich gerettet. Ich danke Ihnen.."
Mehr konnte sie nicht sagen, denn Dorian legte seinen Arm erneut um ihre Schultern, drehte sie weg und sagte: „ Wir müssen jetzt gehen, ich habe einen zweiten Wagen kommen lassen und er ist schon eingetroffen, wir fahren jetzt nach Hause." Er schob sie langsam in Richtung des zweiten Autos, dabei drehte er sich nochmal kurz um und nickte Stanton zu.
„ Ich danke Ihnen ebenfalls. Vielen Dank, dass sie meine Schwester beschützt haben, das werde ich nicht vergessen.." , er nickte erneut, „ ... und vielleicht sollten Sie einen Arzt aufsuchen wegen ihrer Lippe, das sieht böse aus."
Er schob Mia auf den Rücksitz des Wagens und schloss hinter ihnen die Tür.
Bevor sein Partner den Angreifer auf die Wache abtransportierte, nahm er noch Stantons Personalien auf und rief einen Krankenwagen.

Bis dieser eingetroffen war, stand er weiter auf dem nassen Asphalt und schaute auf den dunklen Boden. Der Regen ließ langsam nach und einige Passanten versammelten sich gaffend um ihn herum. Wahrscheinlich sind sie spätestens durch die Sirene des Polizeiautos auf das Treiben aufmerksam geworden.
Es war ihm egal.
Sein Kopf dröhnte.
Vor seinem geistigen Auge liefen die letzten Minuten nochmal ab wie ein Film, und nur langsam fand sein Herzschlag den gewohnten Rhythmus wieder. Er senkte etwas erschöpft den Kopf, als ein funkelnder Gegenstand seine Aufmerksamkeit erregte, genau an der Stelle, an der Mia vorhin stand, blitzte es kurz auf.
Stanton ging zwei Schritte darauf zu und beugte sich langsam herunter, um es aufzuheben.
Es war ein kleiner Haarkamm aus Silber - der obere Teil war verziert mit einem liegenden Drachen, dessen Körper mit kleinen Diamanten besetzt war. In den Drachenaugen befanden sich zusätzlich zwei grüne Smaragde.
Er war sich sicher, dass dieses Schmuckstück Mia verloren hatte und verstaute es direkt in seiner Hosentasche. Wahrscheinlich war er ihr aus dem Haar gerutscht, als der fremde Mann sie an diese Wand gedrückt hatte.

Stanton fand gerade noch die Zeit sein Büro abzuschließen, bevor der Krankenwagen kam. Er wurde ins nächst gelegene Krankenhaus gebracht, seine Wunden wurden versorgt und seine Lippe musste mit mehreren Stichen genäht werden. Der nächste Morgen brach schon langsam an, als er die Ambulanz wieder verlassen durfte und ein Taxi ihn in seine Wohnung brachte.

In einem anderen LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt