25 - Chris

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Chris öffnet die schwere Metalltüre und tritt ins Freie. Es ist noch sehr früh am Morgen, die Sonne erscheint gerade am Horizont. Der Captain blinzelt und bückt sich, um seine Schuhe fester zu binden. Auf den wenigen Grashalmen liegt feiner Tau. Der Spätsommer geht langsam zu Ende, was sich langsam auch an den Temperaturen bemerkbar macht. Als er sich gerade erhebt, seine Schultern strafft und im Begriff ist, loszulaufen hört er, wie hinter ihm die Türe aufgeht. Etwas verwundert sieht er sich um. Eigentlich ist noch über eine Stunde Zeit, bis das reguläre Training beginnt.

„Morgen, Captain!" Piers grüßt ihn knapp.

Chris runzelt die Stirn. Mit so viel Tatendrang am frühen Morgen hätte er nicht gerechnet. Insbesondere nach der gestrigen Feier.

„Hey, Piers!" Er mustert ihn kurz. „Wie ich sehe willst du auch ein bisschen an deiner Ausdauer arbeiten?"

Der jüngere nickt energisch.

„Na los, Captain! Weniger reden, mehr laufen!"

Chris schüttelt den Kopf und grinst.

„Was haben sie denn dir ins Futter gerührt? Na dann mal los!"

Chris klopft ihm aufmunternd auf die Schulter und läuft los. Obwohl er die Gesellschaft der Campmitglieder und vor allem die seines Teams überaus schätzt genießt er es, in den Morgenstunden etwas Zeit für sich zu haben.

Er entscheidet sich für ein gemäßigtes Tempo, was dazu führt, dass Piers ihn bald überholt hat. Trotz der kurzen Nacht scheint sein Protegé vor Kraft nur so zu strotzen. Er grinst und fragt sich, was wohl in ihm vorgeht. Auch wenn ihr Verhältnis nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile ausgezeichnet ist fällt es ihm trotzdem manchmal schwer, ihn zu deuten. Während er dem gleichmäßigen Knirschen seiner Schritte lauscht sieht er Piers hinterher, der sich am hohen Stacheldrahtzaun entlang auf einen der beiden Wachposten zu bewegt. Die Luft ist klar, kein Vogel ist am Himmel zu sehen. Da das Gelände nicht übermäßig groß ist dauert eine Umrundung nicht sonderlich lang. Als er zur zweiten Runde ansetzt hat er bereits vergessen, dass er nicht alleine ist. Seine Füße bewegen sich mechanisch. Links, rechts. Links rechts. Sein Atem geht ruhig und gleichmäßig.

Während des Laufens begeben sich seine Gedanken auf Wanderschaft. Seit dem Vorfall in Raccoon City sind nun fünf Jahre vergangen. Fünf verdammt lange und verdammt ereignisreiche Jahre.

Als kleiner Junge wollte er immer Polizist werden. Als er alt genug war, hat er sich diesen Traum erfüllt. Damals hätte er nicht gedacht, dass es ihn einmal so weit bringt. Captain einer Spezialeinheit. Seine Eltern wären bestimmt stolz auf ihn. Sofern sie ihn sehen könnten. Er schnaubt verächtlich. Er hatte damals den Einsatz in Raccoon City begleitet, doch er hatte sie nicht retten können. Sein verzweifelter Versuch sie zu warnen hätte beinahe in seinem eigenen Tod resultiert. Die Umbrella Corporation war gnadenlos vorgegangen. Ohne mit der Wimper zu zucken wurde die komplette Stadt abgeriegelt und sich selbst überlassen. Das Virus griff zu schnell um sich, sodass auch die meisten Wissenschaftler ihr Leben lassen mussten. Da er als Polizist von Nutzen war, wurden er und sein damaliges Team gerettet. Das geschah, wie er bald begriff, nicht aus Nächstenliebe, sondern aus reinem Eigennutz. Ein Spezialteam aus bis an die Zähne bewaffneten Soldaten in schwarzen Kampfanzügen hatte ihn und seine Partnerin Jill Valentine aus der Stadt eskortiert und zu einem abgelegenen Militärstützpunkt in die Berge gebracht. Obwohl sie dort zunächst sicher waren spürte er deutlich die Erschütterung des Bodens, als der Nuklearschlag die Stadt getroffen hat.

Er blinzelt.

Jill. Was wohl mittlerweile aus ihr geworden ist? Offenbar hat der Colonel damals etwas in ihm gesehen, denn bereits nach kurzer Zeit ernannte er ihn zum Unteroffizier und bald darauf zum Leutnant. Obwohl sie immer noch auf demselben Stützpunkt stationiert waren hatten sie sich weitestgehend auseinandergelebt. Anfangs hatte er sie noch ab und zu auf dem Gelände gesehen, wenn auch nur aus der Ferne. Eines Tages war sie spurlos verschwunden gewesen. Keiner seiner Vorgesetzten konnte oder wollte ihm Auskunft erteilen über ihr Verbleiben. Viele Nächte hatte er damals wach gelegen und sich gefragt, was mit ihr passiert sein mochte. Vielleicht war sie aufgrund ihres taktischen Geschicks für eine geheime Mission abgezogen worden.

Bis heute fällt ihm kein anderer Gedanke ein, der ihr plötzliches Verschwinden erklärt. Er hatte sich damals in die Arbeit gestürzt und Karriere gemacht. Nach seiner Beförderung zum Captain trennte man ihn von seiner damaligen Truppe und wies ihm eine handverlesene Schar an vielversprechenden, jungen Soldaten zu. Man versicherte ihm, man habe aus sämtlichen Einheiten nur das Beste ausgesucht. Als er zum ersten Mal in ihre Gesichter sah war ihm noch nicht bewusst, was sie noch gemeinsam erleben würden. Einige Männer hatten im Kampf ihr Leben lassen müssen. Ryan, Piers und Finn hatten ihn bis hierher begleitet.

Er schüttelt seinen Kopf, um die Gedanken los zu werden. Der Vergangenheit nachzutrauern hat keinen Sinn. Was passiert ist, ist passiert. Alles was zählt, ist das hier und jetzt.

Die Sonne steht bereits höher am Himmel. Als er gerade seine letzte Runde läuft sieht er, dass sich seine Männer bereits eingefunden haben. Er beschleunigt sein Tempo, um zu ihnen aufzuschließen.

Als er sie erreicht wischt er sich mit seinem T-Shirt den Schweiß von der Stirn und blickt in die Runde. Ryan sieht etwas blass aus, doch bei Finn scheint die letzte Nacht keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. Piers sitzt mit gelangweiltem Gesichtsausdruck auf einem Stein. Chris klatscht in die Hände. „Auf geht's, Männer! Drei Runden ums Feld, und nicht trödeln!"

Folgsam setzt sich die Truppe in Bewegung. Obwohl er ein schnelleres Tempo anschlägt als davor setzt sich Piers wieder von der Gruppe ab. Chris grinst, behält sein Tempo jedoch aus Rücksicht auf seine Kameraden vorerst bei. Erst bei der letzten Runde entschließt er sich, einen Zahn zu zulegen.

„Hey, Piers, alter Angeber!" Ryan stützt sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab.

Chris grinst.

„Wenn hier einer alt ist, dann du! Die Jungs vertragen anscheinend mehr als du!"

Ryan atmet schwer, entgegnet jedoch nichts. Vermutlich ist er in seinem Stolz gekränkt.

Abgesehen von einigen Anweisungen des Captains geht das Training an diesem Morgen recht ruhig vonstatten. Obwohl es ihm normalerweise widerstrebt, einzelne Teammitglieder besonders hervorzuheben kann er nicht anders, als Piers mehrmals für seine außerordentlichen Leistungen zu loben. Vielleicht wirkt es auch nur so, da die beiden anderen angeschlagen sind. Er beschließt, diese Entwicklung im Auge zu behalten.

Nach knapp zwei Stunden erklärt Chris das Training für beendet.

„Gute Arbeit, Männer! Ihr könnt euch zurückziehen, wir sehen uns beim Mittagessen! Für heute Nachmittag hat Claire die Versammlung einberufen. Bis später."

Als sie sich bereits von ihm abwenden, ruft er Finn nochmals zu sich.

„Finn, warte mal kurz!"

Der Hüne dreht sich um und sieht ihn an. Mit einer Hand streicht er sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht.

„Und du bist dir sicher, dass du die Frauen trainieren willst?"

Der Captain sieht ihn misstrauisch an.

„Nicht nur Frauen, Captain. Ein Basistraining für Anfänger."

Er atmet noch schwer und stützt sich mit einer Hand in die Seite. Als sich sein Puls etwas beruhigt hat fährt er fort.

„Ich denke, das ist eine gute Idee, Chris. Diese Welt verlangt uns allen das Äußerste ab. Wer weiß, wie lang wir noch in diesem Camp bleiben können. Es wird nicht schaden, den Laden auf Vordermann zu bringen!"

Chris grinst, tritt zu ihm und klopft ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

„Tu was du nicht lassen kannst!" Nach einer kurzen Pause fügt er leiser hinzu: „Und wenn du Rat brauchst, du weißt ja, wo du mich findest."

Finn grinst und nickt. Er weiß, dass er sich auf seinen Captain jederzeit verlassen kann. Er verdankt ihm mehrfach sein Leben, jetzt ist es an der Zeit für ihn, etwas zurückzugeben. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln folgen sie den anderen ins Innere.

Afterlife (Resident Evil FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt