Die grauen Türme und Zinnen des Palastes im Herzen von Oranborn ragten unwirklich über Adhara auf. Sie verschwanden fast in der grauen Wolkendecke, aus der seit dem späten Mittag Regen niederzugehen drohte.
Es war kalt, aber die Aufregung machte sie taub gegen solche Nichtigkeiten.
Das Ziel ihrer Sehnsüchte und der Ort ihres neuen Lebens lagen auf der Spitze des Hügels vor ihr, den die Stadt vollständig überwuchert hatte.
Sie straffte ihre Schultern, reckte das Kinn ein wenig nach oben und drückte ihren Rücken durch. Dann bedeutete ihr der Ritter mit einem Nicken, dass es Zeit war, durch das Tor zu reiten.Seit ihrem Entstehen hatten sich Häuser und Stadtmauern um die Oranburg auf dem Gipfel gelegt, wie Jahrringe um den Kern eines Baumes.
Inzwischen gab es vier Stadtmauern, aber selbst vor der äußersten, wuchsen bereits einige Werkstätten und Behausungen in die Ebene.
Thorn von Goldwald führte sie durch das Südtor in die Stadt, wo sie am wenigsten von den strengen Gerüchen der Gerbereien und Färber auf der anderen Seite belästigt wurden.
Hinter dem Tor hatten Reiter in den Farben der Krone, grau, rot und gold, eine breite Gasse durch die Menschen getrieben, die gekommen waren, den Einzug der neuen Königin zu erleben.Zuerst war Adhara von der Größe der Stadt, den vielen Menschen, ihren Häusern und den grellen Farben der Soldaten geblendet.
Als sie jedoch genauer hinsah, erkannte sie, dass nur wenige Leute jubelten. Eine beunruhigend große Zahl stand einfach da und starrte sie aus hungrigen Augen an.
Die Kleider der Menschen waren bestenfalls grob, schlechtestenfalls nur noch Fetzen, die sie um ihre ausgemergelten Leiber gewickelt hatten.
Oranborn war weit über die Grenzen des Reiches hinaus für die Kleidung und Stoffe bekannt, die hier hergestellt wurden. In diesem Viertel war davon nichts zu sehen.
Es schien kaum Farben zu geben, alles war braun oder im Ton von ungefärbtem Nesseltuch gehalten.
Die Menschen verschmolzen mit der Umgebung. Geduckte und schiefe Häuser drückten sich an graue Mauern und schienen auf's Geratewohl zusammengenagelt worden zu sein. Schlammige Wege voller Unrat zogen sich als schmutzige Streifen an diesen entlang und verschwanden in dunklen Gassen aus denen üble Gerüche hervorwaberten. Reparaturbedürftige Holzläden hingen vor dunklen Fenstern, die ebenso leer blickten, wie ihre Bewohner.
Die einzige Farbe, an die sich Adhara später erinnern konnte, war das blasse Gelb eines zerlumpten Wollumhanges einer Frau. Diese stand auf einer Bank vor einer heruntergekommenen Spelunke in der Nähe der zweiten Stadtmauer, als sie das Armenviertel fast hinter sich gelassen hatten und sah sie direkt an.
Hier war sie froh, die große, schimmernde Gestalt auf dem stampfenden Streitross neben sich zu wissen, die ihre Umgebung wachsam beobachtete.
Es kostete Adhara einige Mühe, einen freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht zu halten und hierhin und dorthin zu lächeln.Endlich durchquerten sie das Tor der zweiten Mauer und gelangten in den Bezirk, in dem die meisten Handwerker und einfachen Händler ansässig waren. Hier mischten sich blassrote und zartgelbe Töne als stetige Farbtupfer in das Braun und Beige.
Auch die Häuser wirkten besser gepflegt. Einige hatte man in kräftigen Farben bemalt oder beschrieben und fast alle Fenster waren sorgfältig mit Pergament oder Leinen bespannt.
Vor einigen Behausungen lagen Waren ausgebreitet - hauptsächlich Dinge, die der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs oder der Tuchherstellung und -verarbeitung dienten.
Diese Handwerke florierten wegen der Schneiderkünstler, die jedoch zum großen Teil näher am Palast wohnten. Eine ganze Gasse schien nur der Zunft der Nadler zu gehören, die ihre Ware aus Eisen, Horn oder Knochen in vielen Größen und Stärken anboten.
Andere hielten bunte Bänder oder Garne feil, die fröhlich im Wind vor einigen der Arbeitsstuben flatterten.
Ein Schild vor einem Laden, der jedoch geschlossen zu sein schien, zeigte eine reife Pflaume in kräftigen Blau- und Lilatönen. Adhara fragte sich, was hier hergestellt werden mochte.Ritter Thorn führte sie auf einer Straße nach oben auf die dritte Mauer zu, die so schmal war, dass sie eher einer Gasse glich. Es kostete die Reiter, die den Weg freihalten sollten, einige Mühe den Durchritt Adharas nicht zu behindern.
Die Häuser schienen sich nach vorn zu drängen und wuchsen über den Köpfen der Menschen beinahe zusammen. Manche der Fenster lagen so dicht voreinander, dass sich die Bewohner durch sie die Hand reichen konnten. Dadurch drang nur wenig Licht auf den Boden.
Es war düster und drückend und Adhara begann sich zu fragen, ob die ganze Stadt so sein würde.
Die Menschen hier waren besser genährt, auch wenn die kargen Ernten der letzten Jahre ihre Gesichter schmal und ihre Körper hager hatte werden lassen. Sie alle aber jubelten, als sie vorbeiritt. Ihr fiel es nun leichter ihr zukünftiges Volk anzulächeln und sie winkte sogar von Zeit zu Zeit.
Je weiter sie den Hügel hinaufritten, desto kräftiger wurden die Farben und angenehmer die Gerüche.
Langsam begann sie sich wie die Königin zu fühlen, die sie bald sein würde, während ihr Brückfeldingstein zunehmend klein und provinziell erschien.
Noch vor einem Jahr hatte sie geglaubt, nur dort glücklich sein zu können, aber hier, zwischen den Hochrufen und dem Jubel, der nur ihr galt, fühlte sie sich lebendiger, als jemals zuvor.
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Wenn der Schnee fällt
Historical FictionIntrigen, Verrat und enttäuschte Hoffnungen mit einem Hauch Romantik. Eine mittelalterlich-fantastische Geschichte über das Ringen um einen Platz in der Welt. Adhara soll überraschend den König heiraten. Nie hätte sie geglaubt, so weit aufzusteigen...