5 Oranborn

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Die grauen Türme und Zinnen des Palastes im Herzen von Oranborn  ragten unwirklich über Adhara auf. Sie verschwanden fast in der grauen  Wolkendecke, aus der seit dem späten Mittag Regen niederzugehen drohte.
Es war kalt, aber die Aufregung machte sie taub  gegen solche Nichtigkeiten.
Das Ziel ihrer Sehnsüchte und der Ort  ihres neuen Lebens lagen auf der Spitze des Hügels vor ihr, den die  Stadt vollständig überwuchert hatte.
Sie straffte ihre Schultern,  reckte das Kinn ein wenig nach oben und drückte ihren Rücken durch. Dann  bedeutete ihr der Ritter mit einem Nicken, dass es Zeit war, durch das  Tor zu reiten.

Seit ihrem Entstehen hatten sich Häuser und  Stadtmauern um die Oranburg auf dem Gipfel gelegt, wie Jahrringe um den Kern eines Baumes.
Inzwischen gab es vier  Stadtmauern, aber selbst vor der äußersten,  wuchsen bereits einige Werkstätten und Behausungen in die Ebene.
Thorn von Goldwald führte sie durch das Südtor in die Stadt, wo sie am  wenigsten von den strengen Gerüchen der Gerbereien und Färber auf der  anderen Seite belästigt wurden.
Hinter dem Tor hatten Reiter  in den Farben der Krone, grau, rot und gold, eine breite Gasse durch die  Menschen getrieben, die gekommen waren, den Einzug der neuen Königin zu  erleben.

Zuerst war Adhara von der Größe der Stadt, den vielen Menschen, ihren Häusern und den grellen Farben der Soldaten geblendet.
Als  sie jedoch genauer hinsah, erkannte sie, dass nur wenige Leute  jubelten. Eine beunruhigend große Zahl stand einfach da und starrte sie  aus hungrigen Augen an.
Die Kleider der Menschen waren bestenfalls  grob, schlechtestenfalls nur noch Fetzen, die sie um ihre  ausgemergelten Leiber gewickelt hatten.
Oranborn war weit über die Grenzen des Reiches hinaus für die Kleidung und Stoffe bekannt, die hier hergestellt wurden. In diesem Viertel war davon nichts zu sehen.
Es schien kaum Farben zu geben, alles war braun oder im Ton von ungefärbtem Nesseltuch gehalten.
Die Menschen verschmolzen mit der Umgebung. Geduckte und schiefe Häuser  drückten sich an graue Mauern und schienen auf's Geratewohl  zusammengenagelt worden zu sein. Schlammige Wege voller Unrat zogen sich  als schmutzige Streifen an diesen entlang und verschwanden in dunklen  Gassen aus denen üble Gerüche hervorwaberten. Reparaturbedürftige  Holzläden hingen vor dunklen Fenstern, die ebenso leer blickten,  wie ihre Bewohner.
Die einzige Farbe, an die sich Adhara später  erinnern konnte, war das blasse Gelb eines zerlumpten Wollumhanges einer  Frau. Diese stand auf einer Bank vor einer heruntergekommenen Spelunke in  der Nähe der zweiten Stadtmauer, als sie das Armenviertel  fast hinter sich gelassen hatten und sah sie direkt an.
Hier war  sie froh, die große, schimmernde Gestalt auf dem stampfenden Streitross  neben sich zu wissen, die ihre Umgebung wachsam beobachtete.
Es kostete Adhara einige Mühe, einen freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht zu halten und hierhin und dorthin zu lächeln.

Endlich  durchquerten sie das Tor der zweiten Mauer und gelangten in den  Bezirk, in dem die meisten Handwerker und einfachen Händler ansässig  waren. Hier mischten sich blassrote und zartgelbe Töne als stetige  Farbtupfer in das Braun und Beige.
Auch die Häuser wirkten besser  gepflegt. Einige hatte man in kräftigen Farben bemalt oder beschrieben und fast alle Fenster waren sorgfältig mit Pergament oder Leinen bespannt.
Vor einigen Behausungen lagen Waren ausgebreitet - hauptsächlich Dinge,  die der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs oder der  Tuchherstellung und -verarbeitung dienten.
Diese Handwerke  florierten wegen der Schneiderkünstler, die jedoch zum großen Teil  näher am Palast wohnten. Eine ganze Gasse schien nur der Zunft der  Nadler zu gehören, die ihre Ware aus Eisen, Horn oder Knochen in vielen  Größen und Stärken anboten.
Andere hielten bunte Bänder oder Garne feil, die fröhlich im Wind vor einigen der Arbeitsstuben flatterten.
Ein  Schild vor einem Laden, der jedoch geschlossen zu sein schien, zeigte  eine reife Pflaume in kräftigen Blau- und Lilatönen. Adhara fragte sich,  was hier hergestellt werden mochte.

Ritter  Thorn führte sie auf einer Straße nach oben auf die dritte Mauer zu, die so schmal war,  dass sie eher einer Gasse glich. Es kostete die Reiter, die den Weg freihalten sollten, einige Mühe den Durchritt Adharas nicht zu behindern.
Die Häuser schienen sich nach vorn zu drängen und wuchsen über den Köpfen der Menschen beinahe zusammen. Manche  der Fenster lagen so dicht voreinander, dass sich die Bewohner durch  sie die Hand reichen konnten. Dadurch drang nur wenig Licht auf den  Boden.
Es war düster und drückend und Adhara begann sich zu fragen,  ob die ganze Stadt so sein würde.
Die Menschen hier waren besser  genährt, auch wenn die kargen Ernten der letzten Jahre ihre Gesichter  schmal und ihre Körper hager hatte werden lassen. Sie alle aber jubelten,  als sie vorbeiritt. Ihr fiel es nun leichter ihr zukünftiges Volk  anzulächeln und sie winkte sogar von Zeit zu Zeit.
Je weiter sie den  Hügel hinaufritten, desto kräftiger wurden die Farben und angenehmer die  Gerüche.
Langsam begann sie sich wie die Königin zu fühlen, die sie  bald sein würde, während ihr Brückfeldingstein zunehmend klein und  provinziell erschien.
Noch vor einem Jahr hatte sie geglaubt, nur  dort glücklich sein zu können, aber hier, zwischen den Hochrufen und dem  Jubel, der nur ihr galt, fühlte sie sich lebendiger, als jemals zuvor.

Wenn der Schnee fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt