Plötzlich berührte jemand sie sanft am Arm.
„Val, he. Mensch Val." Es war Malon, der in gutem Glauben die Stadtwachen gerufen hatte.
Es wurde allmählich dunkel und sie wußte nicht, was sie nun anfangen oder wohin sie sich wenden sollte.
Ihr Gesicht schmerzte erbärmlich. Es war nicht der erste Hieb dieser Art, der Valu getroffen hatte, aber sicher einer der heftigeren.
Malon fasste ihren Arm etwas fester und sie zuckte vor Schmerz zusammen. Er ließ sie sofort los und sah sie erschrocken an.
„Val, komm erstmal mit. Ich weiß einen Platz - da kannst du pennen. Und morgen sieht's schon wieder anders aus. Na komm!"
Sie hatte keine Kraft zu widersprechen und folgte ihm einfach.
Während sie schweigend nebeneinander hergingen, versuchte sie zu begreifen, wie das alles hatte geschehen können, aber es entglitt ihr wieder und wieder.
„Tut mir leid, wegen der Wache, Val", entschuldigte sich der Junge schließlich. „Ich dacht' wirklich, die würden dir helfen."
Sie sagte nichts, sondern schlurfte nur kraftlos neben ihm her.
Malon schwatzte weiter, vielleicht um sie aufzuheitern oder abzulenken.
„Ich frag' mich, ob deren Kommandant das weiß. Oder dessen Kommandant. Wer is'n das eigentlich? Der Kommandant des Kommandanten?"
Noch immer brachte sie nicht den Willen auf, sich an dem Gespräch zu beteiligen. „Vielleicht der König?", überlegte der Junge laut.
Valu blieb wie angewurzelt stehen.
Eine vage, verzweifelte Hoffnung keimte in ihr auf und gab ihr die Kraft zurück.
Der König. Die Königin!
Die Königin war in den Seichriemen hinabgestiegen, durch den Dreck gewatet und hatte das Waisenhaus besucht. Valu hatte es mit ihren eigenen Augen gesehen.
Außerdem hatte sie Hilfe angeboten. Man solle sich direkt an die Königin wenden; das waren deren eigene Worte gewesen.
Valu musste einfach nur zum Palast gehen und der Königin ihren Fall vortragen, die würde ihr helfen.
Sie drehte abrupt um und stapfte auf das innere Stadttor zu.
Malon, der von ihrem Manöver überrumpelt war, folgte ihr eilig. „Valu? Val? Wo willst'n hin? Was is'n los?"
„Die Königin", keuchte Valu, von dem schnellen Schritt bergauf, den sie aufgenommen hatte, außer Atem.
„Die Königin?", wiederholte der Junge. „Was hat denn die Königin damit zu tun? Val, bist Du in Ordnung?"
Sie näherten sich dem Tor. Malon reimte sich zusammen, was sie vorhatte.
„Val, hör mal. Val! Der Schlag muss richtig hart gewesen sein. Du bist übergeschnappt! Du wirst nie durch das Tor kommen, geschweige denn durch das nächste und schon gar nicht zur Königin! Val! Jetzt warte doch mal."
Aber sie hörte nicht. Die Königin hatte Hilfe zugesagt. Sie hatte es selbst gehört.
Malon blieb erst einen Schritt zurück, dann zwei und schließlich hielt er an. Wahrscheinlich wusste er, dass er Valu nicht vor dem nächsten Unglück bewahren konnte, wenn sie so begierig war, mitten hinein zu laufen.
Die hatte inzwischen das Tor erreicht. Sie bot einen abgerissenen Eindruck, der von ihrer anschwellenden Wange und den erblühenden Blutergüssen auf ihren nackten Armen auf's Erbärmlichste ergänzt wurde.
„Wo willst du denn hin?" raunzte eine ältere Wache vor dem Tor sie an.
„Da durch. Ich muss zur Königin", verkündete Valu scheinbar selbstsicher.
Die Antwort war schallendes Gelächter.
„Bist Du besoffen, Weib? Mach das du wegkommst." Der andere Posten sah sie interessiert und angewidert zugleich an.
„Die Königin hat gesagt, man solle sich direkt an sie wenden und nur an sie! Lasst mich durch!", verlangte Valu.
Malon schüttelte im Hintergrund den Kopf. „Völlig übergeschnappt", murmelte er und wartete, wie die Szene wohl ausgehen würde.
„Verpiss Dich!", fuhr der Ältere sie nun grob an. „War ein netter Scherz und nu mach, dass Du in Deine Gosse zurückkriechst."
Valu ging unbeirrt auf das Tor zu. Dies war ihre einzige und letzte Möglichkeit. Sie würde sich nicht abwimmeln lassen.
Die Wachen wechselten einen ungläubigen Blick. Der Ältere trat ihr entgegen und als sie versuchte an ihm vorbeizukommen, holte er aus und schlug sie so mitleidlos, dass sie ein Stück zurückgeworfen wurde. Sie schlug hart auf der Straße auf. Ihre Schulter knirschte und ein stechender Schmerz fuhr ihr bis zur Hüfte.
„Verrücktes Weibsstück", murmelte der Soldat, während er auf seinen Posten zurückkehrte.
Valu blieb einfach liegen. Sie würde nicht durch das Tor kommen. Sie würde der Königin nicht ihren Fall vortragen können und diese würde ihr nicht helfen.
Wie alle Adeligen hatte die junge Königin gelogen.
Die Tränen kamen zurück, als wäre der Damm, der sie zurückgehalten hatte, endgültig gebrochen.
Valus Gesicht und Körper schmerzten, aber noch mehr die Demütigungen und ihre eigene Dummheit.
Ein heftiger Weinkrampf schüttelte sie, als sich Malon vorsichtig neben sie kniete und wieder beruhigend auf sie einredete.
Nach kurzem Zögern streckte er sogar die Hand aus und streichelte unbeholfen ihr Haar.
„Val, na komm schon. Du kannst hier doch nicht liegenbleiben. Und die alte Merga soll sich mal dein Gesicht ansehen."
Valu schluchzte.
Der Junge blieb eine Weile neben ihr hocken. Die Witze und das Gelächter der Torwachen drifteten zu ihr herüber.
Irgendwann ebbte das Weinen ab und Valu schniefte laut.
„Komm Val, Merga hat auch immer einen starken Schnaps, du weißt schon - den, den sie immer aus ihren Kräutern brennt."
Die Aussicht auf einen starken Schnaps half Valu langsam auf die Beine.
Sie biß sich zu allem Überfluss die Zunge blutig, als sie die Zähne wegen des Schmerzes, der durch ihre Seite fuhr, aufeinanderschlug.
Malon stützte sie und führte sie vorsichtig in Richtung der Krautfrau davon.
Auf der Straße, vor dem Tor, erinnerte nur ein kleiner, nasser Fleck an die bitteren Tränen, die von einer Dirne, die alles verloren hatte, vergossen worden waren.
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Wenn der Schnee fällt
Historical FictionIntrigen, Verrat und enttäuschte Hoffnungen mit einem Hauch Romantik. Eine mittelalterlich-fantastische Geschichte über das Ringen um einen Platz in der Welt. Adhara soll überraschend den König heiraten. Nie hätte sie geglaubt, so weit aufzusteigen...