16 Verlust

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Valu kehrte einige Ascheflocken, die aus der flachen Öffnung unter dem Herd geschwebt waren zurück ins Feuer.
Für die Jahreszeit war es bereits ungewöhnlich warm und trocken, aber das Essen musste gekocht werden, gleich wie sehr einem der Schweiß den Rücken hinunterlief.
Anni saß am Tisch unter dem Fenster und schaute suchend auf die Straße vor dem Haus.
Vor ihr stand eine leere Schale, die sie bis auf den letzen Tropfen geleert hatte. Sie war über den Winter und das Frühjahr in Valus Obhut etwas rundlicher geworden.
Das hieß in Annis Fall nicht viel, aber ihre Wangen waren nicht mehr so eingefallen und die Ringe unter ihren Augen nicht mehr so tief.
Die geduckte Haltung, die sie immer wirken ließ, als würde sie einem Schlag ausweichen wollen, hatte sie dagegen nicht verloren.
Valu ging zur geöffneten Haustür und stützte sich dort auf ihren Besen.
Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und Irma war noch nicht zurückgekehrt.
Das war ungewöhnlich, denn sie war bereits seit dem frühen Morgen unterwegs und hätte ihr Tagewerk längst beendet haben müssen.
Seit Valu sie in ihrem Haus einquartiert hatte, war die rundliche Frau noch nie mehr als einige Momente früher oder später als sie es vorgehabt hatte, aufgetaucht. Nun war sie seit Stunden überfällig.
„Was denkst Du, was mit ihr los ist?", piepste Anni vom Tisch.
Valu kehrte ins Haus zurück und stellte den Besen zurück hinter die Tür.
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich liegt sie irgendwo besoffen mit ein paar Burschen unterm Tisch." Sie sagte das zuversichtlicher, als sie sich fühlte.
Das Viertel war ein gefährliches Pflaster. Irma konnte sich wehren und ging keine unnötigen Risiken ein, aber irgendwann traf jede von ihnen auf einen Betrunkenen mit einem Messer oder starken Fäusten.
Valu entschied, ihren Geiz endlich zu überwinden und ein paar Schläger anzustellen.

Wenn Irma heute heil nach Hause käme, würde sie gleich morgen früh losgehen und einen kräftigen Burschen mit stählernen Muskeln beauftragen, auf die Mädchen aufzupassen.
Das Geschäft lief gut und sie hatte ohnehin noch ein- oder zwei weitere Frauen anheuern wollen, die für sie arbeiteten. 
Mit dem Verdienst von dreien und ihren eigenen gelegentlichen Einkünften, würde das Geld für alle Ausgaben reichen und sie könnte weiterhin etwas zurücklegen.
Plötzlich drangen Geräusche eines Aufruhrs an Valus Ohren, die sich dem Haus zu nähern schienen.
Anni erhob sich halb und warf Valu einen ängstlichen Blick zu.
Die nickte ihr zu und ging dann nach draußen, um sich die Sache anzusehen.
Dort erblickte sie Irma in Begleitung dreier Männer, die sie vor sich hertrieben wie eine Kuh und eine Menschenmenge, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollte.
Anni drückte sich mit vor Angst geweiteten Augen an sie und gab ein ersticktes Geräusch von sich.

Irma sah schrecklich aus: Ihr Haar fiel ihr wirr um das breite Gesicht, das auf einer Seite so geschwollen war, dass man ihr Auge kaum noch erkennen konnte. Ihr Kleid hing ihr nur noch in Fetzen am Leib und gab den Blick auf weite Teile ihres weißen, weichen Fleisches frei, auf dem sich bereits Blutergüsse abzuzeichnen begannen. Getrocknetes Blut blätterte von ihren aufgerissenen Lippen.
„Ihr verdammten Hurensöhne!", entfuhr es Valu, die noch nie besonders gut darin gewesen war, zuerst zu denken und dann zu sprechen.
„Was habt ihr mit ihr gemacht?", fuhr sie die Männer an, die grinsend vor dem Haus stehen geblieben waren. Aufgebracht trat sie auf sie zu.
Anni überlegte kurz, ob sie Valu folgen sollte, entschied sich aber dann, lieber weiter den Türrahmen zu umklammern, um schnell ins Haus zurückweichen zu können.

„Ah, Val. So heißt du doch, nich' wahr?", fragte der mittlere und kleinste der Männer gedehnt.
Die beiden anderen schienen auf seinen Befehl zu hören und Valu kannte ihn.
Er trug eine dunkelbraune Hose aus Leinen, die einen für das Viertel gewaltigen Bauch umspannte. Darüber saß ein speckiges Hemd, das einmal gut gewesen sein mochte. Es klaffte vorn auseinander und gab den Blick auf eine haarige Brust und eine große Narbe frei, die quer darüber verlief und von einer mächtigen, silbernen Kette fast verdeckt wurde.
Er war der Besitzer des „Sandkorns" und der „Prallen Pflaume", beides Freudenhäuser im mittleren Stadtring, zwischen den Handwerksbetrieben.
„Was willst Du, Trent? Ich hab mit dir nix zu schaffen. Warum verprügelst du mein Mädchen?", verlangte Valu zu wissen.
Sie war inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass Reden besser war, als sich auf den rechten Koloss zu werfen, der ihr Mädchen festhielt und ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten - obwohl ihr genau danach der Sinn stand. Sie musste Irma helfen.
„Val, Val, Val. Süße Val." Trent musterte sie und leckte sich dabei anzüglich über die wulstigen Lippen. „Sieh mal. Ich bin ein großzügiger Mann."
Er klatschte sich auf den Bauch, wodurch dieser ein wenig in Bewegung geriet. „Da kannst Du jedes meiner Mädchen fragen. Stimmt's nicht, Hug?" Er lachte über seinen eigenen Witz und Hug grunzte zur Bestätigung.
„Aber es gibt eine Sache, die kann ich überhaupt nicht leiden. Kannst du dir denken, was das ist? Du bist doch ein schlaues Mädchen, Val? Oder doch nur eine dumme Dirne, mh?"
„Der Schwanz soll die abfaulen!", zischte Valu.
Trent lachte schallend. „Ah. Eine Dame von Welt, wie ich es mir dachte. Ich erklär's Dir, Val. Schöne Val, süße Val. Val mit dem suszeptibelen Gemüt."
Valu schnaubte. Offenbar hatte der Wichtigtuer einige Worte von den Hochwohlgeborenen aufgeschnappt, die in seinen Lokalen die Mädchen bestiegen.
„Die eine Sache, die ich wirklich gar nicht vertrage, ist eine Dirne, die versucht ihren eigenen Laden aufzumachen, ohne mich vorher um Rat zu fragen. Ich hätte Dir wirklich gern unter die Arme gegriffen und dich von meiner Erfahrung profitieren lassen." Trent spitzte die Lippen, als versuchte er zu ergründen, ob sein Anliegen verstanden worden war.
„Wir ham' nix mit dir zu schaffen. Ich und meine Mädchen geh'n nich' ins Öhr." Valu begriff nicht, warum sie hier standen.
„Mh, mh, mh. Mag sein, mag sein. Mir ist aber nun zu Ohren gekommen, dass du nicht einfach mit diesen Bettwärmern zusammen wohnst und ihr euch gelegentlich was verdient.
Nein, Val, süße Val. Weißt Du was ich noch gehört habe?" Seine Blicke fuhren anzüglich über ihren Körper.
„Na was?", murrte Valu.
„Ich habe gehört, du versuchst noch mehr davon in dein", er musterte nun die Bretterkonstruktion, die windschief zwischen zwei Steinmauern klemmte, „Haus zu locken."
Die letzten Worte tropften von seiner Zunge wie vergorene Milch. „Du willst profitabel arbeiten, aber am Ende des Tages bist du nur eine dumme, kleine Dirne."
Trents Blick wurde hart. Valu verstand plötzlich, dass es kein gutes Ende für das hier gab. Er hatte sich bereits entschieden. Sie schluckte.
„Hol Dein Mäuschen her!", forderte er sie auf.
Valu sah sich hilfesuchend um. Sie kannte die Meisten aus der Menge. Keiner machte Anstalten sich einzumischen und sie konnte es ihnen nicht verübeln. Sie hätte es genauso gehalten.
„Nein", erwiderte sie und bemühte sich ihrer Stimme eine Sicherheit zu geben, die sie nicht empfand.
„Hug." Der linke Koloss setzte sich in Bewegung. Der andere hielt weiter Irma fest, deren Beine zu versagen drohten.

Wenn der Schnee fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt