11: Kurze Erklärungen und deutliche Befehle

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Ich biss mir auf der Unterlippe herum und verlagerte mein Gewicht von dem einen auf das andere Bein. Samuel wusste von mir beziehungsweise von mir als Wolf. Er hatte mich nicht vergessen und wirkte nun, als wäre ihm diese Information vor seinem Bruder und diesem Mica herausgerutscht. Warum redeten sie nicht miteinander? Was sollte die Stille und das endlose Starren?

„Wieso erzählst du uns erst jetzt von dem zweiten Werwolf?", wollte Reece wissen und knirschte mit den Zähnen. Seine Körperhaltung hatte sich stark verändert. Obwohl er schon die ganze Zeit demonstrierte, dass er derjenige war, der in dieser Situation entscheid, wer sprechen und wer antworten sollte, wirkte er nun nochmals imposanter.

„Nun ja, wie du vielleicht vergessen hast, war ich bis vor ein paar Stunden noch im Krankenhaus und nicht ansprechbar", erklärte Samuel ruhig und stieß mit dem Fuß seines gesunden Beines gegen die Krücken. „Außerdem ist es mir gerade erst wieder eingefallen."

Sein Bruder schien diese Erklärung erst einmal gelten zu lassen und wandte sich nun wieder Ian und mir zu. Er wirkte noch immer enttäuscht und eventuell sogar ein bisschen wütend über den Verlauf der Dinge. Aber was hätte ich, eine Siebzehnjährige, ihm schon sagen sollen? Was erwartete er von mir? Ein Geständnis oder eine wenig glaubhafte Geschichte, wie ich allein nachts durch den Wald gerannt bin, um dem Heulen eines Wolfes nachzulaufen? Wohl eher nicht und auch er selbst schien einzusehen, dass dieses Gespräch zu nichts führte. Wir wussten nichts und damit waren wir für die Jäger so unwichtig, wie das einzelne Korn an einem Maiskolben.

„Schön, dann können wir ja jetzt gehen", entscheid Mica für die Gruppe und ging voran zur Tür. „Wir müssen Sam endlich mal nach Hause bringen. Ansonsten schafft er es womöglich noch, sich das andere Bein zu brechen oder sein Kreislauf bricht zusammen."

„So schwächlich bin ich nun auch nicht", entgegnete dieser gekränkt und humpelte an uns vorbei. „Außerdem solltest du besser aufpassen, was du sagst Mica. Ansonsten breche ich dir noch was."

Ich musste lachen, obwohl dieser Witz alles andere als lustig war. Wahrscheinlich brachen gerade nur meine Nervosität und Panik in sich zusammen, da ich darauf hoffen konnte, dass die Jäger in wenigen Sekunden das Haus verlassen haben. Was bedeutete, dass sie den Fremden nicht finden und keine Fragen stellen konnten, die wir nicht beantworten könnten.

„Du solltest öfter Lächeln", flüsterte mir Samuel beim Vorbeigehen zu und ich erstarrte.

Weil ich mich nicht rührte, begleitete Ian die Jäger zur Tür und verabschiedete sich rasch von ihnen. Als er die Tür geschlossen hatte, sank er mit dem Rücken an diese gelehnt zu Boden und auch ich sackte an Ort und Stelle zusammen.

„Das war knapp", murmelte mein Zwillingsbruder vor sich hin. „Viel zu knapp. Wieso sind sie hierher gekommen? Wieso so schnell? Und warum in aller Welt hatten sie einen Verletzten dabei?"

„Dieser Verletzte", donnerte ein Knurren aus der hintersten Ecke unserer Küche. Kurz darauf erschien der Fremde, der sich noch immer die Seite hielt und dessen Gesicht zu einer finsteren Miene verzerrt war. „Das war der Jäger, der mich angegriffen und verfolgt hatte." Sein Blick fiel auf mich und er rümpfte die Nase. „Und dem du geholfen hast!"

Meine Beine fühlten sich nach der emotionalen Tortur, die ich soeben im Stillen und - voller Panik entdeckt zu werden - durchgemacht hatte, noch immer wie Pudding an, trotzdem rappelte ich mich schnell auf. Denn der Fremde stürmte regelrecht auf mich zu, zeigte die Zähne und schien abermals in seinem Angriffsmodus zu sein. Völlig ohne nachzudenken, ergriff er meine linke Schulter und riss mich beinahe von den Füßen. Doch ich schaffte es, ihm nicht nur auszuweichen, als er meine rechte Schulter auch noch packen wollte, sondern trat ihm zusätzlich die Beine weg.

Der Streuner strauchelte und fing sich stöhnend an der Sofalehne ab. Er warf einen Blick über die Schulter und funkelte mich zornig an. Ich verstand nicht, was sein Problem war. Natürlich mochte ich die Jäger nicht, aber das konnte man wohl kaum mit Hass gleichsetzen. Wir hatten nichts davon, uns zu bekriegen. Wir wollten doch nur in diesem Kaff leben und möglichst wenig auffallen. Um in dieser Welt zu überleben.

„Erstmal danke, dass du dich so schnell versteckt hast", erwiderte ich und brachte ihn damit für einen Moment aus der Fassung. „Und ja, ich habe diesem Samuel geholfen", redete ich mit zittriger Stimme weiter. Denn auch wenn er verletzt war, schüchterten mich seine aggressive Art und sein aufbrausendes Verhalten dennoch ein. „Das war die einzige Möglichkeit, Schlimmeres zu verhindern!"

„Ganz genau", fügte mein Vater, der mit meiner Mutter an seiner Seite ins Wohnzimmer kam, hinzu. „Ein toter Jäger würde die anderen anstacheln, uns ausfindig zu machen. Und noch mehr. Wie du schon sagtest, würden sie uns jagen - so wie sie dich gejagt haben - und uns umbringen. Rache zu provozieren ist nie eine gute Lösung für das Jägerproblem, das wir Werwölfe haben." Er trat an mich heran und klopfte mir leicht auf den Rücken. Ich bemerkte, wie ich die Luft angehalten hatte und atmete stoßartig aus. Dann widmete sich mein Vater wieder dem Fremden. „Anstatt meine Kinder zu bedrohen, könntest du uns ja mal verraten, wer du bist und woher du kommst. Oder besser noch. Du sagst uns, was du in unserem Revier willst."

Der Fremde schwieg und das schien meinem Vater ganz und gar nicht zu passen. Obgleich er ein ruhiges Gemüt besaß, konnte er, sobald es um seine Familie ging, recht ausfallend werden. Ähnlich wie Raphael, der sich bis jetzt nicht mehr hatte blicken lassen.

„Sag schon", forderte mein Vater den Streuner ein weiteres Mal auf. „Wie du siehst, wollen wir dir nichts Böses, haben sogar deine Wunden versorgt. Erzähl also von dir", seine Stimme klang nun einladender und weniger bedrohlich. „Alles andere, auch wie wir mit den Jägern umgehen, bleibt unsere Entscheidung."

„Komm schon", redete ich nun auch auf dem fremden Werwolf ein, der noch immer am Sofa lehnte. Er blickte auf, die Augen halb geöffnet und schwer atmend. Es war unübersehbar, dass er kämpfte, damit er nicht als Schwächling dastand. „Verrate uns deinen Namen."

„Dante", knurrte er schließlich und ließ sich in die Polster sinken.

Mehr bekamen wir nicht aus ihm heraus. Nur seinen Namen, aber jeder beginnt einmal klein und ich würde mir sein Vertrauen schon noch erarbeiten. Selbst wenn er mich dafür hasste, dass ich einem Jäger geholfen hatte. Natürlich half uns ein Überlebender auf der feindlichen Seite nicht weiter, aber unsere Möglichkeiten waren von Anfang an sehr begrenzt und unser Ziel dafür umso klarer. Wir wollten überleben und unser Leben leben, wie die Menschen es auch taten. Nicht mehr und nicht weniger. Es ging nicht anders, als unter ihnen zu leben. Unentdeckt. Ich hatte Samuel vor dem Tod bewahrt, damit sie uns nicht nach dem Leben trachten würden. Damit sie uns und alle anderen Werwölfe nicht suchten, jagten und töteten.

 Damit sie uns und alle anderen Werwölfe nicht suchten, jagten und töteten

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